31.5.19

Mister Link

USA 2019 Regie: Chris Butler 95 Min. FSK ab 6

Sir Lionel Frost ist ein Vorfahre von Indiana Jones und prädestiniert für die alte Entdecker- und Bigfoot-Geschichte: Von den gar nicht so ehrenwerten britischen Forscher-Kollegen verachtet, macht er sich auf, das legendäre Geschöpf Bigfoot im Westen Kanadas zu finden. Dabei hat dieses sagenhafte Wesen selbst Frost einen Brief mit den nötigen Hinweisen geschrieben. Denn der riesige und haarige Kerl kann sehr gut sprechen und schreiben, beim Schach gewinnt er auch immer. Und das tierische Brüllen zur Begrüßung erweist sich einfach als Frosch im Hals. Da es dem Fabelwesen als letztem seiner Art in den Rockys zu einsam ist, so Frost ihm helfen, nach Shangri-La zu den Bigfoot-Verwandten, den Yetis, zu kommen. Zur Tarnung für die Reise gehört ein neuer Name: Mister „Susan" Link.

Ein eigenwilliger Stil, schräger Humor und ungewöhnliche Figurenzeichnung - „Mister Link" kommt sichtbar aus der gleichen Stop-Motion-Trickfabrik wie „Kubo: Der tapfere Samurai", Neil Gaimans „Coraline" und Tim Burtons „Corpse Bride". Eleganz und Raffinesse in Zeichnung und Inszenierung machen Spaß, viel vom weiteren Witz liegt in den Dialogen. Immer wieder klasse, wie Mister Link Sprichwörtliches wortwörtlich nimmt. Im Original gibt die Stimme von Hugh Jackman dem Abenteurer Sir Lionel Frost einen verwegenen maskulinen Touch, kombiniert mit britischer Steifheit. Die Synchronisation entschied sich hierbei für Christoph Maria Herbst.

26.5.19

Herr Zwilling und Frau Zuckermann

BRD 1999 (Herr Zwilling und Frau Zuckermann) Regie Volker Koepp, 126 Minuten, teils O.m.d.U.

Die Wiederaufführung der wunderbaren Dokumentation von Volker Koepp ist heute vielleicht noch wichtiger als vor 20 Jahren: Herr Zwilling und Frau Zuckermann sehen sich jeden Abend. Die Treffen zwischen dem Pessimisten und der lebensfreudigen Frau wäre nicht bemerkenswert, wäre er nicht 70 und sie nicht neunzig Jahre alt. Als deutschstämmige Juden in Czernowitz in der heutigen Ukraine haben sie ein bewegtes, oft furchtbares Jahrhundert miterlebt.

Czernowitz, das ehemaligen Zentrum jüdischer Kultur in der Kulturlandschaft Bukowina, war immer von einem Völkergemisch bestimmt - im Positiven wie im Negativen. Deutsche und Rumänen deportierten fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Volker Koepp war in diesem nun vergessenen Ort an der Grenze zu Rumänien auf der Suche nach den Spuren Paul Celans und traf auf die beiden Überlebenden Herr Zwilling und Frau Zuckermann.

Der allseits begeistert gepriesene Dokumentarfilm nimmt sich Zeit für Erinnerungen. Nebenbei erfahren wir etwas vom neuen Leben in der jüdischen Gemeinde. „Herr Zwilling und Frau Zuckermann" wurde 1999 beim 29. Internationales Forum des Jungen Films der Berlinale und beim Dokumentarfilmfestival in Nyon ausgezeichnet.

Roads

BRD, Frankreich 2018 Regie: Sebastian Schipper, mit Fionn Whitehead, Stéphane Bak, Moritz Bleibtreu 99 Min. FSK ab 6

Der sehr naive Engländer Gyllen (Fionn Whitehead) klaut zur Feier seines 18. Geburtstags beim Familienurlaub in Marokko das Wohnmobil seines Stiefvaters. Nur blöd, dass er für den Weg zum leiblichen Vater (Ben Chaplin) in Frankreich keinen Führerschein hat. So landet der gleichaltrige William (Stéphane Bak) aus dem Kongo auf dem Weg über Spanien hinterm Steuer. Obwohl der als Flüchtling gar keine Papiere hat. Der deutsche Rasta-Man (Moritz Bleibtreu), den Gyllen für die Grenzpassage per Fähre bei Ceuta anheuert, klaut gleich den ganzen Camper, ohne von William zu wissen, der auf der Toilette versteckt ist.

Eine ganze Menge verrücktes Abenteuer auf dem Road Movie zu Gyllens Vater und später zu Williams Bruder im Flüchtlingslager „Dschungel" bei Calais. Doch es sind nicht die genretypischen Wendungen und Fluchten, es sind die Zwischentöne, die auch bei diesem Film von Sebastian Schipper fesseln und begeistern. Der Schauspieler („Toni Erdmann", „Drei", „Winterschläfer") ist mit „Victoria" (2015), „Mitte Ende August" (2009) und „Absolute Giganten" (1999) bisher viel zu selten Regisseur gewesen. Denn er gehört zu den besten, die wir haben!

Gyllen wird immer wieder reingelegt, hat aber auch den jugendlichen Optimismus, einfach weiter zu machen. Der Riesen-Batzen Hasch, den der deutsche Rasta in der Toilette versenkt hatte, entspannt die beiden Jungs und braucht im weiteren Film nicht für Spannung zu sorgen. Schipper hat ein besonderes Gefühl für den „flow" des Miteinander, die Handlung fließt durch Europa, nebenbei angetrieben von den motorisierten Gefährten, die Gyllen gerne von den Vätern übernimmt. Den Ernst liefern die Realitäten um die verwöhnten und die existentiellen Fluchten im zweiten, fast dokumentarischen Teil des Films. Wie oft bei Tony Gatlif folgen die Straßen der Figuren der Migration von Süd nach Nord.

Einfache, ins häufige Dunkel gesprochene Begriffe, was sie sein wollen und was nicht, charakterisieren die beiden sehr verschiedenen Jungs, die Freunde werden. Die Bilder der exzellenten Kamera von Matteo Cocco sind ein Genuss.

Rocketman

USA, Großbritannien 2019 Regie: Dexter Fletcher, mit Taron Egerton, Richard Madden, Jamie Bell 121 Min.

Zum Abheben niederschmetternd - das selbst-produzierte Biografie-Musical zum Leben des genialen und hyper-exzentrischen Musikers Elton John ist groß und nicht artig. Zwischen Bohemian Rock'n'Roll und einem „Best of" der langen Karriere macht „Rocketman" Spaß und Lust auf mehr Elton John.

Es ist ein großer Auftritt im schrill orangefarbenem Pailetten-Dress mit Engelsflügeln und Teufelshörnern. So stolziert Elton John (Taron Egerton) im erhebendem Showlicht durch den Gang ... aber nicht auf die Bühne, sondern in eine Selbsthilfe-Gruppe. Hallo, ich bin Elton und Alkoholiker, außerdem kokse ich, bin sex- und konsum-süchtig sowie Bulimiker. In dieser Therapie-Sitzung des Films wird sich Elton John die Hörner abstoßen und sich erstmal an seine Kindheit erinnern.

Wie der fünfjährige Reginald Dwight im gut situierten Vorort die erste große Musical-Szene bekommt, bestimmt das Drama des Elton John, zu dem er später werden wird: Schillernd in einer farblosen Umgebung. Extrovertiert, aber im Herzen furchtbar einsam. Das übersichtliche psychologische Grundschema durchzieht den Film, der lieblose, abwesende Vater bringt dem ungemein talentierten Jungen den ersten Schmerz bei.

Nach bevor sich Reginald mit einem anderen Namen neu erfindet, dirigiert der musikalische Autodidakt nachts schon einem kleinen Orchester die Titelmelodie „Rocketman". Die zum Teil grausam herzlose Familie stimmt tagsüber in ein schönes Klagelied ein, diese besten Momente erinnern an geniale britische Filmmusicals von Denis Potter wie „Pennies from Heaven" (1978) oder „Lipstick on Your Collar" (1993).

So trumpfen in „Rocketman" vor allem großartige Songs und viele tolle Szenen auf: Wie sensationell am 25. August 1970 Elton Johns erster Auftritt im „Troubadour" in Los Angeles eingeschlagen hat, zeigt die (historisch nicht korrekte) Eröffnungsnummer „Crocodile Rock". Nicht nur der Pianist, der ganze Saal hebt vor Begeisterung ab. „Tiny Dancer" beschreibt in diesem Film die bittere Eifersucht, als auf der nachfolgenden Hippie-Party sein bester Freund und Texter Bernie Taupin (Jamie Bell) mit einer Frau verschwindet. Schwindelerregend sind Erfolg und Einsamkeit in einem immer wilderen Kreisel der Auftritte, mit all den extravaganten Verkleidungen in einer rasenden Sequenz komprimiert. „It's sad so sad and its getting more and more absurd" (Es ist so traurig und wird immer absurder) - hier trifft der Filmstil exakt die erzählte Biografie. Aber keine Angst: „Candle In The Wind" wird nur ganz kurz angespielt und die Gesprächs-Therapie erweist sich als erfolgreich. Elton John wird in ein zweites, weiter ungemein erfolgreiches Leben entlassen.

Das „Rocketman"-Team hat sich im Genre des Musikfilms schon einige Lorbeeren verdient. Das Buch stimmt von Lee Hall, aus dessen „Billy Elliot" ist auch der damalige Hauptdarsteller Jamie Bell als Eltons bester Freund Bernie Taupin dabei. Regisseur Dexter Fletcher durfte die Freddie-Mercury-Bio „Bohemian Rhapsody" fertig stellen, nachdem Bryan Singer vorverurteilt rausgeschmissen wurde.

„Rocketman" ist mit einem problemlosen Coming Out und Sex unter Männern wesentlich undramatischer als „Bohemian Rhapsody". Mit reichlich grandiosen Songs für die Ewigkeit, die man diesmal vielleicht besser im Original gelassen hätte, aber auch eine klasse Hit- und Kostüm-Sammlung, die gute Laune macht.

22.5.19

High Life

Frankreich, BRD, Polen, USA 2018 Regie: Claire Denis, mit Robert Pattinson, Juliette Binoche, André Benjamin, Lars Eidinger 113 Min.

Lost in Space zwischen „Solaris" und „Silent Running" - so hätte der neue Film von Claire Denis im besten Fall werden können. Wenn Sie das jetzt alles nur verwirrt, ist das exakt das irre Film-Gefühl vom ziellos driftenden Science Fiction „High Life".

Claire Denis hat einige sehr, sehr bemerkenswerte Film inszeniert: „Nénette et Boni" (1996) mit der großartigen Valeria Bruni-Tedeschi als Bäckersfrau, „Trouble Every Day" (2001), der extrem leidenschaftliche Vampirfilm mit der genialen Musik von Tindersticks (auch diesmal dabei), „White Material" (2009), „35 Rum" (2008) und zuletzt - wesentlich schwächer - „Meine schöne innere Sonne" (2017) mit Binoche und Depardieu.

Nun hebt die französische Regisseurin mit ihrem ersten englisch-sprachigen Projekt ab: Sie schickt Robert Pattinson und Juliette Binoche mit einer klapprigen Raumfahrt-Kiste ohne jeglichen Science-Fiction-Glanz in den Weltraum. Beziehungsweise sie platziert ihre Figuren trotz annähernder Lichtgeschwindigkeit in recht stationäre Zustände vor einem eindrucksvollen Schwarzen Loch.

Das Raumfahrzeug in Schuhkarton-Form mit der Nummer 7 beherbergte einst ein paar verurteilte Schwerverbrecher und die wahnsinnige Reproduktionswissenschaftlerin Dibs (Juliette Binoche). Regelmäßige Sperma-Spenden, künstliche Befruchtungen und abstruse Masturbations-Kammern dienten alle dem Experiment, im Weltall Kinder zu zeugen. Lange Jahre vergebens. Gleichzeitig zeigt der Film ein Nachher, in dem Monte (Robert Pattinson) alleine mit seiner Tochter Willow (Jessie Ross) an Bord des noch mehr verfallenden Raumschiffs lebt.

So weit, so verständlich. Formal ist „High Life" mit seinem Mix aus Erinnerungen und Impressionen fast Terrence Malick. Also mehr Stimmungen als Handlung. Nett ist das Babyphone der Zukunft, wenn Pattinson draußen Raumkapsel repariert, während sein Baby drinnen schreit. Ziemlich verrückt ist die sehr übertrieben sexy Wissenschafterin, auch wenn hier die wunderbare Körperlichkeit aufblitzt, die viele Filme von Claire Denis bestimmt. Im bitteren Widerspruch zur lange vergeblichen Reproduktion steht die extrem sexuell geschwängerte Luft. Aber statt sich unter Laborbedingungen zu vermehren, sterben die Fluggäste wie die Fliegen. Durch Strahlung oder Gewaltausbrüche. Mit Outcast-Sänger André Benjamin, Mia Goth, Lars Eidinger, Claire Tran und Agata Buzek gibt es interessante Darsteller für die Nebenrollen - Format gewinnen diese Figuren trotzdem nicht. Aus der Sicht von Fans ist dieser Pattinson-Film ohne Biss ein weiteres Kunstkino-Experiment nach Cronenbergs „Cosmopolis" (2012) und „Life" von Anton Corebijn (2015). In „High Life" hat er bei aller Unverträglichkeit mit anspruchsvollem Kunstfilm viele „Oh wie süß"-Szenen mit (s)einem Baby.

Nicht nur weil ein paar irre Figuren in der Kiste mitfliegen, ist „High Life" ein ziemlich irrer Film. Man könnte auch sagen, schwer verständlich. Irgendwie verschlingt der Film über die Erkundung eines - faszinierend gestalteten - Schwarzen Lochs selbst viel Bedeutung und Sinn. Hat der Hund aus Montes Kindheit vielleicht etwas mit Tarkowskijs berühmtem Film-Schäferhund aus „Nostalghia" zu tun? Es ist ja auch irgendwie - wieder Tarkowskijs - „Solaris", wenn am Ende der nächste Raumkarton (Nr. 9) voller verwilderter Hund andogt, sorry: andockt. Aber war nicht Science Fiction mal gedacht, um fremde Welten zu entdecken, unbekannte Lebensformen und neue Zivilisationen? Dieser Film dringt jedenfalls in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

21.5.19

Die rote Linie - Widerstand im Hambacher Forst

Die rote Linie - Widerstand im Hambacher Forst

Der Kampf um den Hambacher Forst steht symbolisch für den Widerstand gegen eine veraltete Energiepolitik. Die Langzeitdokumentation „Die rote Linie - Widerstand im Hambacher Forst" porträtiert diesen Kampf bewusst einseitig mit Protagonisten des historischen Widerstands und zeichnet den Weg bis zum „Kohlekompromiss" nach.

D 2019
Regie: Karin de Miguel Wessendorf
Kamera: Frank Kranstedt, Gerardo Milsztein
Ton: Ralf Weber, Ralf Gromann
Musik: Fabian Berghofer
Schnitt: Kawe Vakil
Laufzeit: 115 Min.

https://mindjazz-pictures.de/filme/die-rote-linie-widerstand-im-hambacher-forst/

Bürger und Rebellen

Im Westen der Republik, zwischen Aachen und Düsseldorf zerschneidet der Braunkohle-Tagebau Hambach vom Energie-Konzern RWE als eine unfassbar große Brache die Landschaft. Am Rand dieser unüberblickbaren Narbe steht weiterhin der Hambacher Forst, ein sehr altes und einzigartiges Naturgebiet. „Die rote Linie - Widerstand im Hambacher Forst" ist das Zeitdokument über eine erstaunliche und historisch bedeutsame Bürgerbewegung, die den Hambacher Forst retten wollte und wahrscheinlich den Kohleausstieg enorm beschleunigt hat.

Regisseurin Karin de Miguel Wessendorf („Weniger ist mehr – Die Grenzen des Wachstums und das bessere Leben") begleitete die Proteste von „Bürgern ohne Lobby" seit 2015 und konzentriert sich auf vier dankeswerte Aktivisten und Betroffene: Der sympathische Baumbesetzer Clumsy mit den Piercings im Gesicht verkörpert eine entschlossene Sanftheit, die allerdings bei der Fragestellung über die Definition von Gewalt durchaus Zerstörung von Material für seine Klimarettung in Kauf nimmt. Einen anderen Weg geht der „Waldpädagoge" Michael Zobel, der auf seinen legendären Waldspaziergängen den Ur-Wald erklärt. Von anfangs kleinen Grüppchen wuchsen seine komplett friedlichen Begehungen des Waldes zu Demonstrationen mit teilweise tausenden Menschen.

Lars ist mit seiner Familie mit seinen Kindern einer der letzten Bewohner in einem der Dörfer, die für den Energie-Hunger abgerissen werden. Die keinen „Heimatfresser", die Bagger der RWE, reißen bereits verlassene Häuser ab. Mit rheinischem Zungenschlag erzählt der Familienvater teilweise unter Tränen, weshalb er an seiner Heimat festhält und sich nicht umsiedeln lässt. Der Abriss des Immerather Doms in seinem Ort gehört zu den großen emotionalen Szenen auf der recht langen Strecke des Films. Die Bürgerin und Politikerin Antje Grothus wird schließlich in der Kohlekommission ihre vor Ort begonnene Arbeit weiterführen. Es sind gute Porträts, die man auch intensiver hätte gestalten können.

Die Doku „Die rote Linie" ist in einer extrem polarisierten Diskussion parteiisch, aber auch ein ethnographisches Dokument eines eindrucksvollen und erfolgreichen Widerstands der Bürger. Der Blickwinkel ist eindeutig einseitig, aber nicht eingeengt. Von anarchischen Rebellen bis erschütterten Bürgern zeigt sich ein breites Spektrum des Widerstands. Die Proteste kritischer Aktionäre bei der RWE-Hauptversammlung kommen ebenso vor, wie dramatische Aktionen bei Räumungen der Baumhäuser von den Waldbesetzern.

Die Chronologie der Ereignisse zeigt eine Eskalation des Konflikts sowie das Hin und Her unterschiedlicher Gerichtsurteile. Die großen Zusammenhänge von Klimakonferenzen oder das Nachdenken über den eigenen Energieverbrauch kommen nur am Rande vor und sind nicht Miguel Wessendorfs Thema. Weitergehende Gedanken über die teilweise Erosion des Rechtsstaates bei den Polizei-Einsätzen, die den Konzern RWE unterstützen, klingen nur an. Es sind die Protagonisten selbst, die sich über den Unterschied zwischen legal oder legitim Gedanken machen.

Bilder der Zerstörung von Landschaft und Kultur blitzen kurz auf, selbst bei eindrucksvolles Aktionen wie zum Beispiel der titelgebenden Menschenkette als „Rote Linie" bleibt die Kamera lieber bei den Menschen, als „große Kinobilder" zu suchen. Aber es ist die Wirkung dieser erschütterten und kämpferischen Menschen, es sind die fantastischen Baumhaus-Siedlungen als gelebte Utopie, welche „Die rote Linie - Widerstand im Hambacher Forst" zu einem wichtigen und teilweise begeisternden Zeitdokument machen.

Günter H. Jekubzik

Jonathan (2018)

USA 2018 Regie: Bill Oliver, mit Ansel Elgort, Suki Waterhouse, Patricia Clarkson 101 Min. FSK ab 12

Es gibt nicht nur Filme ohne Superhelden, es gibt sogar Filme mit richtig neuen Ideen: Die Schizophrenie von zwei Wesen in einem Körper ist bei „Jonathan" nicht das große Geheimnis, das entdeckt werden muss. Von Anfang an ist klar, dass Jonathan und John zwei ganz unterschiedliche Typen sind, die sich einen Körper teilen. Und zwar - dank eines medizinischen Eingriffs - streng geregelt im 12 Stunden-Takt. Jonathan wacht um sieben Uhr morgens auf, geht joggen und dann zur Arbeit. Vor 19 Uhr legt er sich ins Bett. Was nachts passiert, erzählt ihm sein Alter ego John jeden Morgen auf einem Video. Und umgekehrt.

Aber in letzter Zeit fühlt Jonathan sich müde und ausgelaugt. Er kümmert sich um den Haushalt, kocht, macht die Wäsche und findet wie in einer schlechten Beziehung die Serviette einer Bar in den Taschen von John. Sein „Partner" hat ein geheimes Nachtleben, noch dazu eine Freundin. Wie ein Detektiv später herausfindet. Das ist ein Bruch der Regeln, mit denen Jonathan und John miteinander auskommen. Denn mit Freundin wäre es viel zu kompliziert, die Zwillings-Leben aufeinander abzustimmen...

Es ist wieder die eigentlich abgestandene Idee des Körperwechsels, wie im sehr interessanten „Letztendlich sind wir dem Universum egal" (2018), die den Jugendfilm aufmischt. Die originelle Geschichte von „Jonathan" entwickelt sich super raffiniert, überraschend witzig und zunehmend spannend. Jonathan und John sind ganz unterschiedliche Typen: Ersterer, dessen Perspektive wir teilen, zurückhaltend, vorsichtig, verschlossen. Der Nachtmensch John hingegen frech und offen. Irgendwann „verschwindet" John - es gibt keine tägliche Videobotschaft mehr.

Ansel Elgort, bekannt aus dem genialen „Baby Driver", der Schmonzette „Das Schicksal ist ein mieser Verräter" und der „Divergent"-Reihe, fesselt in der Doppelrolle. Der Stil des Films wählt die Kühle des Science Fictions, mit den für so eine Zwillings-Geschichte obligatorischen Spiegelungen. So bleibt die komplizierte Dreiecksbeziehung spannend und interessant. Aber die große Überraschung, die am Anfang war, kann der Film am Ende nicht noch einmal bringen.

20.5.19

Edie - Für Träume ist es nie zu spät

Großbritannien 2018 (Edie) Regie: Simon Hunter, mit Sheila Hancock, Kevin Guthrie 102 Min. FSK ab 0

Es ist nie zu spät, sagt der fremde Mann vom Imbiss. Ja, es hat sich herumgesprochen, auch im Kino, dass es den echt guten Film nicht im falschen Leben geben kann. Oder besser: Nur danach.

Die 83-jährige Edie (Sheila Hancock) bricht alleine auf, um den Mount Suilven in den schottischen Highlands zu erwandern. Nach 30 Jahren Pflege ihres Mannes, der sich dem Streit über genau diese Reise mit einem Hirnschlag entzogen hat. Es ist schon etwas gemein konstruiert, dass gerade in Moment, in dem sich Edie an die verlorene Vergangenheit erinnert, der Ehemann und Pflegefall nebenan praktischerweise dahinscheidet.

Egal, es muss weitergehen, weil die Tochter schon ein Pflegeheim ausgeschaut hat. Mit altmodischem Rucksack und Trolley kommt Edie in Inverness an. Diese weniger verrückte Ausführung der üblichen störrischen Alten, die aus dem Fenster steigen und die Kinokassen klingeln lassen. Jonny (Kevin Guthrie), der junge Mann, der sie zur Begrüßung am Bahnhof umrennt, erweist sich als ein ebenso untalentierter wie unfreundlicher Bergführer in einem völlig überfüllten Touristenort. Sein schmieriger kleiner Bruder schwatzt ihn Edie samt vorherigem Training nämlich wider Willen auf. Während sie selbst bei der Anfahrt durch die Traum-Landschaft ihrer letzten Jahrzehnte einschläft, schwelgt die Kamera in tollen Naturaufnahmen. Das Filmorchester gab den Streichern dabei eine Sonder-Zulage.

„Edie" würde man auf Englisch „Buddy Movie" oder „Odd Couple" nennen: Hier passen zwei zwar überhaupt nicht zusammen, aber verbringen doch den ganzen Film miteinander. Dass Edie und Jonny sich anfreunden, ist der eigentliche Gifel des Films. Die Befreiung erledigte Gevatter Tod bereits für Edie, trotzdem muss sie weiterhin gegen Bevormundung kämpfen, weil ihr keiner zutraut, dass sie es in ihrem Alter alleine auf den 731 Meter hohen Monolith schafft. Statt diese Gipfelwanderung in den letzten dreißig Minuten nur zu einem dramatischen Abenteuer zu machen, lässt sich der Film auch mal treiben. Und die Natur wirken. Was sein größtes Kunststück ist.

John Wick: Kapitel 3

USA 2019 (John Wick: Chapter 3) Regie: Chad Stahelski, mit Keanu Reeves, Halle Berry, Laurence Fishburne, Anjelica Houston, Ian McShane 132 Min. FSK ab 18

Wieder mal John Wick, wieder knallharte Action jenseits der Jugendfreigabe: Der tatsächlich aus der langen Reihe der Schläger fallende Serienkiller, der die Karriere von Keanu Reeves wieder flott machte, geht nach überraschendem Debüt-Erfolg 2014 in die dritte und sicher auch in eine vierte Runde.

Zur Erinnerung: Reeves machte Chad Stahelski, den Stunt-Koordinator von „Matrix", zum Regisseur und begeisterte mit dem schlagkräftigen Ergebnis die Action-Fans. Gleichzeitig gab es diese coole und eiskalte Figur John Wick, die trotz gebrochenem Herzen immer noch vereinzelt Gefühle zeigte. Nun hat der Einzelgänger im letzten Film mit den wichtigsten Regeln des Clubs der Auftrags-Mörder gebrochen. Und dies ist ein Verein mit sehr stricken Regeln, der wie alle anderen die Abweichler martialisch abstrafen muss. Das wär's eigentlich schon in Sachen Handlung. Horden von Killern wollen Killer John Wick killen. Und Killer John Wick killt zurück...

Bei so viel Einfältigkeit in einem schon nicht besonders komplexen Genre muss die Atmosphäre den Film ausmachen: Seltsame Goldmünzen, aus der Zeit gefallene Rituale, eine verschwurbelte Sprache, Telefone mit Kabeln dran, mythische Gegenstände und strenge Regeln, die man beim dauernden Morden nicht erwarten würde, bestimmen das Drumherum in „John Wick 3". Auffällig sind die wirklich ausgefallenen Settings, an denen die Messer-Massaker stattfinden. Die ganzen Szenerien wirken fast wie Science-Fiction, so sehr wurden vertraute Orte zu anderen Welten umgestaltet. Besonders schön das Ballett-Theater von Angelika Huston, die mit ihrer russischen Mafia als erste für einen Rest an Loyalität zu John Wick bestraft wird. Die heftigste Killertruppe wird angeführt von einem Sushi-Koch, der eigentlich John Wick-Fan ist. Dementsprechend scharf sind die Klingen, die sogar bei der unerlässlichen Verfolgungsjagd, diesmal auf dem Motorrad, eingesetzt werden.

Die Action von „John Wick 3" gehört in die Kategorie des inszenierten Overkills: Die sowieso unkaputtbaren Helden können während endloser Prügeleien und Schießereien nur noch durch irgendwie raffinierte Choreografien interessant gehalten werden. Das wird dann völlig lächerlich, wenn man nicht erkennen kann, weswegen Wick allen anderen überlegen ist. Wahrscheinlich, weil sein Name auf dem Film-Plakat steht. Mehr als auf die innere Logik dieser Prügeleien wird auf die Gestaltung der Räumlichkeiten geachtet: Schöner Morden ist wieder mal das Motto.

Die Motivation für den Mann der eigentlich schon alles verloren hatte, ist nicht die übliche Rache. Da Wick ja bereits im ersten Film ganz unten war, lässt sich neue Antriebskraft ohne neue Liebe, vergessene Kinder oder entführte Hunde schwer finden. Nun will er unbedingt weiterleben, um weiter an seine tote Frau zu denken. Irgendwie mehr originell als sinnvoll.

Während Reeves meist schweigend und körperlich - ohne seine Stuntmänner - ungelenkt wirkt, während er als der Typ, der mit im Anzug durch den ganzen Film rennt, auch lächerlich erscheinen kann, beeindrucken ein paar Nebenrollen: „American Gods"-Star Ian McShane bekommt als Chef des Gangster-Hotels Intercontinental herrliche Sätze. Wobei vor allem das Nicht-Gesagte, das Zwinkern der Augen und das Zucken der Mundwinkel besonders viel Spaß macht. Halle Berry steht mit zwei Schäferhunden als Hilfs-Killer mitten in einer besonders agilen Action-Szene. Trotz dieser endlosen Prügelstrafe für das Publikum wird „John Wick 3" bis zum sehr netten Cliffhanger, der John und ein paar andere nicht zu Superhelden, aber zu Kino-Ikonen macht, immer reizvoller.

All my Loving

BRD 2019 Regie: Edward Berger, mit Lars Eidinger, Nele Mueller-Stöfen, Hans Löw, Godehard Giese 116 Min. FSK ab 12

Lars Eidinger, der Film- und Bühnen-Gott als Verlierer, als flugunfähiger Pilot, der verzweifelt am alten Glanz festhält. Sein Stefan ist ein erbärmlicher Typ, der mit der alten Uniform weiter Frauen in Bars aufreißt und den Porsche für sein mangelndes Selbstbewusstsein braucht. Die Teenager-Tochter nimmt er an „seinen" Nachmittagen mit zu schmierigen Pool-Partys. Dass er sich nicht wirklich kümmern kann, zeigt sich an dem Riesenköter seiner Schwester, auf den er in einem Anflug von Mitmenschlichkeit aufpassen will.

Seine Schwester Julia (Nele Mueller-Stöfen) und ihr Mann Christian (Godehard Giese) sind ein derart verklemmtes und gehemmtes Paar, das man ihnen nicht lange zusehen will. Selbst beim Urlaub in Turin. Völlig neurotisch stürzt sich Julia dort auf die Pflege eines verletzten Straßenhundes. Ein besonderer Hohn, weil es eigentlich die Eltern zu Hause sind, die wirklich pflegebedürftig wären. Erst verspätet kommt heraus, dass Julia und Christians neunjähriger Sohn vor drei Jahren starb und vor allem sie das nicht bewältigen kann.

Bruder Tobias (Hans Löw) ist hingegen der Oberpfleger: Er schmeißt den Haushalt und versorgt drei Kinder, während seine Frau Maren für den Unterhalt der Familie sorgt. Dann muss er nach Hause, weil der Vater doch schwer krank ist.

Regisseur Edward Berger („Jack", „Deutschland 83", „Patrick Melrose") zeichnet seine drei eindeutigen Hauptfiguren intensiv, die Schilderung gewinnt durch Wiederholungen und Detailgenauigkeit. Ein Zusammenhang dieses Triptychons der Geschwister ergibt sich trotz gemeinsamen Pro- und Epilogs nicht direkt. Eine negative Überraschung für das Interesse an diesem hervorragenden Regisseur: War sein „Jack" über einen verlorenen Jungen in Berlin noch von der ersten bis zur letzten Minute hoch spannend, so fühlen sich diese Portraits trotz des bemüht authentischen Umfelds konstruiert an.

12.5.19

Das Familienfoto

Frankreich 2018 (Photo de Famille) Regie: Cécilia Rouaud, mit Vanessa Paradis, Camille Cottin, Pierre Deladonchamps, Jean-Pierre Bacri, Chantal Lauby, 99 Min. FSK ab 0

Drei Geschwister wollen sich um ihre senile Großmutter kümmern. Da ist es ein schönes Bild für eine gewisse Selbstüberschätzung, wie Gabrielle (Vanessa Paradis) ihre Arbeit als „lebendige Statue" am Ufer der Seine nicht „durchstehen" kann, wenn sie Oma immer hinterherlaufen muss. Gabrielle (Vanessa Paradis), Elsa (Camille Cottin) und Mao (Pierre Deladonchamps) merken schnell, dass Pflege alles andere als einfach ist. Dabei macht dies liebenswerte und liebevolle „Familienfoto" kein Pflegedrama draus: Diese Familie lebt ein ziemliches Kuddelmuddel aus Gefühlen, Problemen, Sehnsüchten, Trennungen, Abschieden und neuen Begegnungen.

Dass die drei ihrer Oma etwas wiedergeben möchten, liegt auch daran, dass ihre damals alternativen Eltern ihnen nie ein Zuhause gegeben haben. Nur während des Urlaubs bei Oma waren die Geschwister eine Familie. Deswegen will Helikopter-Mama Gabrielle jetzt bei ihrem Sohn alles anders machen. Und bekommt es auch nicht richtig hin. Denn der Kleine will endlich weg und beim Vater leben.

Durch und durch interessante Figuren mit Ecken und Kanten bevölkern diesen Ensemblefilm, we immer im französischen Kino vom ausgezeichnetem Personal gespielt. Chantal Lauby („Monsieur Claude und seine Töchter") und Jean-Pierre Bacri („Das Leben ist ein Fest") geben die Eltern selbstverständlich auch so spleenig, dass man die Verwirrung der Kinder versteht. Mama bedrängt Elsa und deren Mann immer mit Porree- und Lebens-Rezepten. Papa schockiert mit der nächsten, viel jüngeren Freundin.

Da alle – mehr oder weniger – sympathische Figuren sind, folgt man ihnen gerne. Vor allem Vanessa Paradis als verpeilte und chaotischer Künstlerin gewinnt mit ihrem rauen Charme. Der Leitfaden durch diese Geschichten bleibt die senile Großmutter, die wieder zurück nach Saint Denis möchte. Regisseurin und Autorin Cécilia Rouaud erzählt leicht, nie wahnsinnig dramatisch, aber immer mit einer Prise Humor.

Once Again - Eine Liebe in Mumbai

BRD, Österreich, Indien 2018 Regie: Kanwal Sethi, mit Neeraj Kabi, Shefali Shah 101 Min. FSK ab 0

Amar und Tara lernen sich am Telefon kennen - der Filmstar bestellt seit einem Jahr allabendlich sein Essen bei der Köchin, und ihre Gespräche werden immer länger, immer persönlicher. Dabei berät überraschend die alleinstehende Mutter den älteren Mann aus der ganz anderen Welt: Er kann nicht richtig tanzen und muss es doch für eine wichtige Filmszene. Das erste Treffen, auf das Amar drängt, verläuft schwierig. Später ist nicht nur das Interesse der Paparazzi belastend für die einfache Köchin, auch die in Indien so grausame Klassengesellschaft fordert Tribut.

Es ist naheliegend, dass „Once Again" im Sozialen noch einmal eine ähnliche Struktur zeigt wie „Lunchbox" von Ritesh Batra („Vom Ende einer Geschichte") und wie „Die Schneiderin der Träume" von Rohena Gera. Aber „Once Again" ist halt nicht der neue Film von Ritesh Batra (der heißt „Photograf" und kommt im Juli). „Once Again" hält sich mit aufgeregten, quirligen Szenen, mit dem Komischen zurück und schwelgt in Stimmungen. Die eher stille, melancholische Romanze könnte ein indischer Wong Kar-Wai sein: „In the Mood for Love" in Mumbai.

Die Impressionen einer quirligen Stadt dürfen in nächtlichen Autofahrten des einsamen Amar wirken. Erst nach seiner Öffnung für die Liebe erfährt er die Menschen um sich herum wirklich. Die selbstbewusste Tara kümmert sich um die unbezahlbare Hochzeit des Sohnes und weiß klug die Gefahren der Beziehung zu einem Star einzuschätzen. Dabei müssen auch die starken sozialen Verwerfungen Indiens eine Rolle spielen, aber wie alles andere nur beiläufig, niemals pamphletartig ins Bild gerückt. Selbstverständlich sehen Neeraj Kabi als Amar und Shefali Shah als Tara sehr gut aus, aber „Once Again" ist nicht das perfekte Bollywood-Kino, die Kamera wackelt hin und wieder mal, Selbstfindung gilt mehr als ekstatische Romantik. Und schließlich gelingt Amar auch die Tanzszene.

The Silence

USA, BRD 2018 Regie: John R. Leonetti, mit Stanley Tucci, Kiernan Shipka, Miranda Otto, John Corbett 90 Min.

„The Silence" wirkt wie eine schlechte Kopie des genialen Lautlos-Thrillers „A Quiet Place". Plagiat zu sein, ist allerdings das Einzige, was man dem gut besetzten und schlecht gemachten Film nicht vorwerfen muss.

Der Schocker zu Anfang sollte genossen werden, den Rest des mäßig spannenden Thrillers kann man sich entspannt ansehen. Aus einer Höhle entfliehen ziemlich viele bissige und fliegende Mini-Dinosaurier. So viele, dass bald immer mehr Großstädte der USA komplett zusammenbrechen, in den Straßen liegen zerfetzte Leichen, die Killer aus der Urzeit kreisen wie die Stare in großen Schwärmen am Himmel. Der Clou: Die Biester aus der dunklen Höhle können nicht sehen und reagieren nur auf Geräusche - siehe „A Quiet Place".

Obwohl die letzten Fernsehsignale davor warnen, das Haus zu verlassen, macht sich die gehörlose Jugendliche Ally (Kiernan Shipka) mit ihrer Familie in Richtung Wälder auf. Zum Glück kann die ganze Familie Zeichensprache, leider hat Oma starken Hustenreiz. Wie das abgelegene Haus einer alten Frau übernommen wird, weil diese dankenswerterweise völlig dämlich im Freien rumschreit, ist vom Drehbuch her einfach dumm konstruiert. Dass dann jemand diesen endlich gefundenen Unterschlupf wegen einer Verletzung in der Familie doch bald wieder verlassen muss, langweilt ärgerlich banal nur noch. Und letztendlich erweist sich der Mensch als der gefährlichste Gegner: Die Religion in Form eines satanischen Priesters steht mit wirklich horrenden Ideen vor der Tür.

„The Silence" lief überall auf der Welt bereits auf Netflix und nun bei uns im Kino. Aber der lahme Endzeit-Thriller ist nicht wie bisher als Netflix-Produktion ein Aufreger, die böse Firma übernahm nur den Vertrieb außerhalb Deutschlands. So zeigt sich ein hochwertig produziertes und besetztes (Stanley Tucci, Miranda Otto), aber eigentlich sehr wenig originelles Filmchen. Regisseur John Leonetti („Annabelle") lässt auf der Basis des Romans von Tim Lebbon aus dem Jahr 2015 das zu schnell passieren, was man sowieso erwartet. Die Figuren im Film scheinen die ganze Gewalt und der Tod um sie herum nicht besonders zu berühren. Mit einem kurzen Zucken im Gesicht ist es erledigt. War bei „A Quiet Place" die Spannung unerträglich, so ist hier das lange Warten auf Spannung schwer auszuhalten. Vielleicht hätte Netflix als Produzent ja etwas Besseres draus gemacht, siehe „Bird Box".

Greta (2018)

Irland, USA 2018 Regie: Neil Jordan, mit Isabelle Huppert, Chloë Grace Moretz, Maika Monroe 98 Min.

Start: 16.5.2019

Greta ist klasse! Weil sie als Galionsfigur einer Jugendbewegung der verkrusteten Politik aufzeigt, wo es hingehen muss. Nicht diese Greta Thunberg? Egal: Greta ist klasse, weil Greta als Schauspielerin und Regisseurin das verkrustete Filmgeschäft mit leidenschaftlichen und klugen Filmen belebt. Wie auch nicht Greta Gerwig? Ok, „Greta" als Film von Neil Jordan ist überhaupt nicht klasse.

Altmeister Neil Jordan realisierte im letzten Jahrtausend einige spannende, intensive und bewegende Geschichten, immer mit einer Extra-Lage unter der Handlung: „Butcher Boy" (1997), „Michael Collins" (1996), „Interview mit einem Vampir" (1994). Er gewann einen Oscar, den Goldenen Löwen und einen Silbernen Bär. „The crying game" (1992) vor dem Hintergrund des irischen Bürgerkriegs war sein bekanntester Film. Aus dieser Zeit scheint auch die Idee für „Greta" zu stammen. Wie in „Fatal Attraction" oder „Single White Female" verkraftet eine Frau die Trennung nicht und es ergibt sich ein Psychothriller mit Stalkerin.

Diesmal ist Isabelle Huppert (wieder) die seltsame Frau. Ihre ungarische Klavierspielerin (sic!) Greta Hideg hat in einer Metro New Yorks die Handtasche vergessen und die freundliche junge Frances (Chloë Grace Moretz) bringt sie ihr nach Hause. Frances hat kürzlich ihre Mutter verloren und Greta vermisst die Tochter, so treffen sich die ungleichen Frauen ein paar Mal. Frances' Mitbewohnerin Erica (Maika Monroe) findet das etwas seltsam, aber richtig unangenehm wird es, als Frances in der dunklen, abgelegenen Wohnung ganz viele Handtaschen entdeckt, die junge Frauen anlocken sollen. Ja, diese „Cruella" hat ein paar Leichen im Keller.

Erst einmal kommt Frances davon, doch nun greift einfallslose Routine dem Film an die Kehle. Die einsame alte Frau stalkt von nun an aufs Heftigste. Wie ein Gespenst steht sie auf der Straße, taucht bei der Arbeit und bei Frances zuhause auf. Mit Liszt und Tücke übernimmt sie die Kontrolle, bis sich das verängstigte und verstörte Mädchen völlig eingesperrt fühlt. Die letzte Viertelstunde bringt etwas Spannung, Action und eine Fingerspitze Splatter. Leider kippt dabei das Dramatische immer ins Alberne ab.

Das Erwartbare eines Stalking-Thrillers wird vom Iren Neil Jordan mit ideal besetzter Huppert und schwacher Chloë Grace Moretz solide inszeniert. Da ist sogar der Part der oberflächlichen Mitbewohnerin Erica von Maika Monroe vielversprechender. Stephen Rea, der Hauptdarsteller aus „The crying game" muss als Detektiv übrigens für seine gute Schnüffler-Nase büßen. Ansonsten kein besonderer Twist, keine neue Inszenierungs-Idee, keine weiteren Ebenen, keine Überraschungen. Nur Steigerung des Stalking-Wahnsinns. Diese „Greta" kann man vergessen, die anderen jedoch...

Der Boden unter den Füßen

Österreich 2019 Regie: Marie Kreutzer, mit Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger, Michelle Barthel, Marc Benjamin 112 Min. FSK ab 12

In der aalglatten, eiskalten Welt der Unternehmensberater, Abwickler und Banker macht die junge Lola (Valerie Pachner) lächelnd Karriere. Sie jettet von einer Firma zur anderen, hüpft heimlich mit der Chefin Elise (Mavie Hörbiger) ins Bett, während das Zuhause fremder als ein Hotelzimmer ist. Alles läuft „glatt", bis die ältere Schwester Conny (Pia Hierzegger) Schwierigkeiten macht. Sie leidet an Schizophrenie leidet und hat versucht, sich umzubringen. Nun will Conny, dass Lola sie auch der Psychiatrie rausholt und bei sich zuhause aufnimmt.

Wie der Karriere-Frau Lola „Der Boden unter den Füßen" entgleitet, ist als Thema ganz von dieser Zeit. Trotzdem ist der Film der österreichischen Regisseurin Marie Kreutzer („Die Vaterlosen", „Was hat uns bloß so ruiniert") nicht so skurril wie „Tony Erdmann", nicht so gnadenlos im Analysieren dieses Menschenschlages wie das Kammerspiel „Zeit der Kannibalen" von Johannes Naber. Auch viele letztlich unerklärbare Anrufe die Geschichte von Lola und Conny etwas rätselhaft machen, die zusätzliche Spannung von „Bad Banks" hat hier auch nichts zu suchen. Allerdings ist das Psychogramm der eifrigen und erfolgreichen Arbeitsbiene sehr monothematisch fixiert auf Hauptfigur und ihren Erfolgswahn. „Hilfreich", dass Lola Vollwaise ohne Beziehung oder Kinder ist. Leider kann Valerie Pachner in der Hauptrolle nicht wirklich überzeugen. Tatsächlich auch, weil „Zeit der Kannibalen" und „Bad Banks" diesen Typus Karriere-Mensch viel eindringlicher und umfassender dargestellt haben.

Under the Tree

Island 2017 (Undir trénu) Regie: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, mit Steinþór Hróar Steinþórsson, Edda Björgvinsdóttir, Sigurður Sigurjónsson, 89 Min. FSK ab 12

Wie ein Nachbarstreit in einem wohl situierten Viertel Reykjaviks eskaliert, ist als Film ebenso unnötig wie als Zwist an sich. Aus Island kommen gerne schräge und tiefgründige Komödien mit schwarzem Humor - „Under the Tree" gehört nicht dazu.

Der große Baum im Garten von Inga und Baldvin verschattet völlig die Liegefläche von Eybjorg und Konrad nebenan. Dass Inga so hässlich gehässig auf Anfrage zur Beschneidung des Störenfriedes reagiert, hat andere Gründe: Einer ihrer Söhne hat sich umgebracht. Sie kommt nicht drüber hinweg, währenddessen will die jüngere Eybjorg noch ein Kind bekommen. So sorgt die verbitterte Frau für Intrigen und beleidigt die Nachbarin. Zerstochene Reifen folgen, fremde Gartenzwerge stehen im Blumenbeet, irgendwann taucht der Schäferhund der einen Seite nur noch ausgestopft wieder auf. Ja, tatsächlich: Die Garten-Feinde sind auch noch Hund– beziehungsweise Katzen-Besitzer.

Was in einer Satire sicherlich ein ironisches Detail wäre. Doch „Under the Tree" hat keinen (schwarzen) Humor, die Figuren sind nicht ambivalent, sondern eindeutig bis einfältig. Dazu wirkt das ganze Konstrukt seltsam unausgegoren: Überall schwingt zwar Sexuelles mit, ja eigentlich fängt der Film mit einem frustrierten Paar nebeneinander im Bett an. Doch das war's dann auch.

Überraschend, denn zumindest das US-Remake „Prince Avalanche" (mit Paul Rudd und Emile Hirsch) von Regisseur Hafsteinn Gunnar Sigurðssons Debüt „Either way" war ein außerordentlicher Film.

Als aggressivster Faktor rumpelt noch der betrügerische, aggressive und übergriffige zweite Sohn von Inga und Baldvin in der Handlung herum. Doch eine wirkliche Entwicklung bleibt aus, es gibt nur eine einfallslose, scheinbar alternativlose Eskalation, die zu Mord und Totschlag führt. Letztlich erschlägt dieser Film mit Einfallslosigkeit - bei den Figuren und im Drehbuch.

6.5.19

Nur eine Frau (2019)

BRD 2019 Regie Sherry Hormann mit Almila Bagriacik, Meral Perin, Rauand Taleb 97 Min. FSK ab 12

Hatun Aynur Sürücü wurde 2005 in Berlin von ihrem jüngsten Bruder erschossen. Sie war 23 Jahre alt und Opfer eines „Ehrenmordes". Sherry Hormann, Regisseurin von „Wüstenblume", zeichnet das Verbrechen einer Familie in diesem packenden und erschütternden Drama nach.

Mit 16 Jahren wird die Schülerin Aynur (Almila Bagriacik) zur Zwangsheirat mit ihrem Cousin von Berlin nach Istanbul ausgeflogen. Die Brüder feiern, „dass ich den Besitzer wechsle", doch ein Jahr später kehrt Aynur als bunt und blau geschlagene Schwangere zurück. Sie darf zwar nach einiger Diskussion - „Er ist ihr Mann, er schlägt sie, weil er sie liebt" - bei der streng religiösen Familie in der furchtbar engen Wohnung bleiben. Nun ist aber nur noch ein Dienstmädchen, dem nichts erlaubt ist. Selbst das eigene Kind zu halten, muss sich Aynur erkämpfen.

Mit drei Schwestern und einem Baby liegt sie in einem Zimmer. Im anderen die Brüder, ohne Ausnahme dämliche, eingebildete und unverschämte Machos jeder Altersklasse. Dass sie die ältere Schwester zwischendurch befummeln wollen, scheint auch zu einer „ehrenvollen" Familie zu gehören. Doch vom üblichen Sozialdrama setzt sich der unbedingt sehenswerte „Nur eine Frau" ab dem ersten Moment durch eine packend klare und jetzige Sprache ab, mit der Aynur erzählt. Mit flottem Ton wird Schreckliches erklärt. Wie die sechs häufigsten Gründe, die das BKA für Ehrenmorde anführt. Und die Aynur bei ihrer Emanzipation vom traditionellen und religiösen Patriarchat alle erfüllt.

Aynurs Erzählung beginnt „sieben Jahre vor meinem Tod": Der Auftakt der Films ist direkt ein Knaller: „Mein Bruder hat mich erschossen, ein Ehrenmord. Aber vielleicht habe ich euch schon damals nicht interessiert." Diese Gefahr besteht bei dem packenden Drama von Sherry Hormann niemals.

„Nur eine Frau" schafft es, das vermeintlich Bekannte solch eines „Falls" von Ehrenmord nicht nur lebendig wiederzugeben, sondern jeden Moment packend zu zeigen. Zwischendurch eingeblendet werden Fotos der echten Hatun Sürücü, die einem die erschreckende Wahrheit der Erzählung nie vergessen lassen. Der beklemmende Einblick in Parallel-Gesellschaften und Selbst-Justiz basiert auf unveröffentlichten Gesprächen mit der Familie, den Tätern, Freundinnen und Freunden Aynurs und der bis heute im Zeugenschutzprogramm befindlichen Kronzeugin.

„Zur Schande werden, heißt einen eigenen Willen haben." Aynur erkämpft sich auf bewegende Weise ein wenig Selbständigkeit, eine eigene Wohnung, eine Ausbildung, Freunde. „Mein böser Weg ist, dass ich leben will" - macht das treffende Drehbuch von Florian Oeller „dieses Verbrechen" wieder mal in nur einem Satz klar. Diese Frau könnte eine Heldin sein, sollte eine Heldin sein, wie sie alleine gegen alle Widerstände ihren Weg geht. Doch es wird immer dramatischer, die Überwachung durch die Brüder, deren Telefon-Terror. Die Radikalisierung und Aufhetzung der mörderische Brüder Tarek und Nuri in der Moschee ist eine Horror-Vorstellung für aufgeklärte Menschen. Aynur hält trotzdem zu ihrer Familie, gibt die Hoffnung nicht auf und glaubt recht naiv an Besserung. In einem schönen Moment des Glücks an ihrem 23. Geburtstag folgt ganz fies der Hinweis, dass sie nur noch drei Wochen zu leben hat.

„Nur eine Frau" muss man sich ansehen, muss sich von diesem Drama packen und erschrecken lassen. Viele Details und ein breites Spektrum an Personen erzeugen nie ein Bild von Fremdenhass oder Anti-Islamismus. In der Rolle Aynurs begeistert Almila Bagriacik („4 Blocks"), Kamerafrau Judith Kaufmann fängt tolle Bilder vom authentischen Milieu ein und spiegelt Aynurs Stimmungen.

5.5.19

Ray & Liz

Großbritannien 2018 Regie: Richard Billingham, mit Ella Smith, Justin Sallinger, Joshua Millard-Lloyd 108 Min. FSK ab 12

Richard Billingham zählt zu den bekanntesten Fotografen Großbritanniens, mit Ausstellungen unter anderem in der Tate Modern und im Victoria and Albert Museum. Bekannt wurde er mit dem Fotoband „Ray's a Laugh", der die Alkoholkrankheit seines Vaters dokumentiert. In „Ray & Liz", seinem Debüt als Spielfilmregisseur, steht wieder der Vater zentral: Aus dessen verwahrlosten, von vielen Fliegen mitbewohntem Schlafzimmer eines Sozialbaus geht die Erinnerung in zwei Episoden zurück zum Familienleben mit den Eltern Ray (Justin Sallinger) und Liz (Ella Smith), sowie dem kleinen Bruder Jason. Dieses Leben kennzeichnet die flehende Bitte von Richard an den Mann vom Jugendamt, der letztlich Jason mitnimmt: „Kann ich auch zu Pflegeeltern, bitte?"

Das Kaninchen köttelt auf das Sofa, der Hund pinkelt auf ungeöffnete Briefe, der kleine Jason hat eine Tupper-Dose voller Schnecken und die Eltern verschlafen das alles komatös besoffen. Es sind atemberaubend asoziale Zustände, die „Ray & Liz" im altmodischen Rahmen des 4:3-Formats, mit satten Farben und einem historischen Müll-Dekor des Birminghams der 80er Jahre einfängt.

Die Kindheit in einer Sozialwohnung im verarmten Black Country, dem Schwarzen Land Englands, will nicht auf die Gefühlsdrüse drücken und auf keinen Fall jemanden lächerlich machen. Auch wenn die lakonische Weise, mit zum Beispiel Jasons nächtliche Ausflüge gezeigt werden, durchaus komisch wirkt. Man kann man sich über diesen rohen Sozialrealismus begeistern, über die Kamera und ihre äußerst detailliert dargestellte Verwahrlosung in vom Kitsch überfüllten Sozialwohnungen. Im Vergleich zu den wunderbaren Sozial- und Familien-Dramen von Terence Davies („Distant Voices - Still Lives", „The Long Day Closes") passiert weniger, das Drama erregt nicht viel Aufsehen. Und letztlich berührt es nicht sehr. Es bleibt Staunen über eine heftige Kindheit und den vielleicht ästhetisch reizvollen Nachbau im Film.

Kleine Germanen

BRD, Österreich 2018 Regie: Mohammad Farokhmanesh 89 Min. FSK ab 12

Es ist tatsächlich eine erschreckende Vorstellung, an die Kinder der Rechtsextremen zu denken, welche gerade - nicht nur in den Medien - so präsent sind. Mohammad Farokhmanesh und Frank Geiger beschäftigen sich in ungewöhnlicher und teils problematischer Form mit dem Thema.

Heidi mal anders: Mit dem Fascho-Opa von der Wehrmacht wandern gehen, bis die Blutblasen platzen. Eine Szene aus der gezeichneten Geschichte von Elsa: Als Kind hat sie in den 80er-Jahren mit dem geliebten Opa immer Soldat gespielt. Mit ausgestrecktem rechten Arm „Für Führer, Volk und Vaterland!" gerufen. Die nationalen Eltern lassen sie keine „amerikanischen Filme" sehen, das sei Feindpropaganda. Stattdessen liest Elsa „Mein Kampf". Die fiktive Geschichte erfährt eine Wende, als das völkische Paar ein behindertes Kind bekommt. Nun rastet Papa völlig aus. Der stramme Nazi hat schon immer Ausländer auf der Straße verprügelt. Als der auch privat schlagende Idiot im Gefängnis landet, darf Elsa mit der sich auch von den völkischen Kameraden emanzipierenden Mutter etwas Freiheit erleben.

Neben die im Stil eines alten, verfärbten und verdreckten Ölbild gezeichnete Geschichte setzt der Film echte Interviews mit adretten, selbstsicher in die Kamera strahlenden Personen, die vom „natürlichen" Leben schwärmen und von der Erziehung zu aufrechten Menschen. Zu den rechten Hasspredigern und Propagandisten, denen irritierend unwidersprochen ein Podium geboten wird, gehört ein rechtes Vordenker-Paar mit sieben Kindern und ein schnieker Identitärer aus Österreich.

Der erzählten Geschichte der rechts verzogenen Elsa lassen sich die Interviews nicht zuordnen. Nur im Off, also gesichtslos, liefern Spezialisten für den Ausstieg von Rechtsextremen die treffenden Analysen zum Thema, den gedanklichen Unterbau. „Kleine Germanen" zeigt rassistisches Denken in vielen Formen, oft harmlos verkleidet im Reden von einem besseren „Früher", einer besseren Kindheit. Diese Einblicke in die unsichtbar private Aufzucht neuer Nazis sind im Detail und als Gesamtbild erschreckend. Dass die rechten Verführer ihre Szenen im vorgelegten fertigen Film anscheinend ohne Widerspruch abgenommen haben, zeigt die ambivalente Wirkung dieses engagierten Films zu einem wichtigen Thema.

1.5.19

Das Ende der Wahrheit

BRD 2019 Regie: Philipp Leinemann, mit Ronald Zehrfeld, Alexander Fehling, Axel Prahl, Claudia Michelsen, August Zirner, Antje Traue 105 Min. FSK ab 16

Während der BND-Spezialist Martin Behrens seiner Tochter eine Bett-Geschichte vorliest, richten US-amerikanische Drohnen in Zentralasien Menschen hin. Angewiesen von Behrens. „Das Ende der Wahrheit" ist ein hoch spannender und hoch politischer Thriller, den man so deutlich und gut aus deutschen Landen nicht erwartet hätte. Ronald Zehrfelds Nachrichtendienstler entdeckt dabei schmutzige Waffen- und Sicherheitsgeschäfte.

Martin Behrens (Ronald Zehrfeld), Zentralasien-Experte beim Bundesnachrichtendienst, hat gerade über ein geschicktes Verhör den Aufenthaltsort eines Miliz-Chef in der (fiktiven) Diktatur Zahiristan herausbekommen. Die US-Armee „erledigt" den Rest mit einem Drohnenangriff. Kurz darauf wird Behrens' Freundin, eine Journalistin, bei einem brutalen Anschlag auf ein Münchener Café umgebracht. Während Behrens nach Bekanntwerden dieser Beziehung beim Nachrichtendienst in Ungnade fällt, entdeckt er eine Verstrickung seines Geheimdienstes mit den Drahtziehern des Anschlags. Außerdem taucht bei den politischen Verhandlungen über Waffenlieferungen nach Zahiristan dauernd eine mysteriöse „Sicherheits"-Firma auf.

„Das Ende der Wahrheit" ist zuerst einmal hervorragend inszeniert und super spannend, was auch der starken Präsenz von Ronald Zehrfeld zu danken ist. Später raubt der Film einem mit den sicherheitspolitischen Sauereien den Atem. Regisseur und Autor Philipp Leinemann traut sich, in einem großen, internationalen Krimistoff auszusprechen, was in deutscher Politik gang und gäbe ist.

Wenn da vorbei an jeder parlamentarischen Kontrolle für die Waffenindustrie Außenpolitik gemacht und innenpolitisch Panik erzeugt wird, nennt der Film das den „neuen Lobbyismus: Gezahlt wird später ..." Nämlich wenn die willfährigen Politiker nach dem Ausscheiden Posten in der Industrie erhalten. Klingt vertraut...

Dieses „Kleine Fernsehspiel" vom ZDF ist kein Fernsehen und auf keinen Fall „klein". Der in Darstellung von Gewalt teilweise drastische Krimi trumpft mit klasse Typen auf, von der ersten Sahne des deutschen Kino- und Fernsehfilms toll gespielt. Dass der gnadenlose Kriegsgewinnler in Führungsposition irgendwann sogar den BND-Präsidenten von arabischen Kämpfern exekutieren lässt, klingt gar nicht so fantastisch, nach allem, was man so von den Schlapphüten erfährt. Beziehungsweise sogar in Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen nicht erfährt.

Nach seinem SEK-Thriller „Wir waren Könige" klagt Philipp Leinemann nun den Zusammenhang zwischen deutschen Waffengeschäften und internationalen Krisen kaum verklausuliert im Krimi an. Über allem steht eine entwaffnende Kinderfrage an die komplexe Figur Zehrfelds: Warum tust du das?

Stan & Ollie

USA 2019 Regie: Jon S. Baird, mit Steve Coogan, John C. Reilly, Nina Arianda, Shirley Henderson, Danny Huston, Rufus Jones 98 Min.

Das beliebte Komikerduo Laurel & Hardy ist Legende und gehört zu den ewigen Ikonen des Kinos. Die wunderbare Tragikomödie „Stan & Ollie" erzählt rührend vom Karriere-Ende eines furchtbar unzertrennlichen Paares.

Eine ewig lange Einstellung von der Garderobe durch emsige Filmstudios bis in die Aufnahme von „Way out West" und dann als fertiger Film ins riesige Kino voller begeisterter Menschen. Laurel & Hardy sind auf dem Höhepunkt ihrer Karriere mit über 100 Filmen, darunter 27 Spielfilme. Die Menschen Stan Laurel (1890-1965) und Oliver Hardy (1892-1957) sind dabei immer scherzend mit Geld beschäftigt: Trotz des Erfolgs kommt zu wenig rein und fließt - vor allem beim lebenslustigen Hardy - zu viel raus.

16 Jahre später stehen Stan Laurel und Oliver Hardy beim Start einer Theater-Tour vor einer Absteige. Beim Tingeln durch kleine und trotzdem nicht gefüllte Bühnen in England hoffen sie verzweifelt auf noch einen Film, der ihm versprochen wurde. Mit ihrem Entdecker Hal Roach hatten sie sich entzweit. Ohne ihn litt die Qualität der Komik.

Die späte „Karriere" ist eine Tragikomödie - was sonst? Die älteren Herren schleppen sich Mitte der Fünfziger Jahre mit viel zu vielen, viel zu schweren Koffern ab. Wenn dann der schwerste wieder die Treppe runter poltert, sind sie ganz Laurel & Hardy der Filme. Bei der Tour durch die Provinz machen sie sogar Werbung für Pommes Buden, aber selbst in erniedrigenden Situationen fällt Stan Laurel immer wieder auf seinen Humor zurück. Ja, „sein" Humor, denn von den persönlichen Deformationen, die man bei beiden ahnt, ist eine verzweifelte Kreativität einsam hinter der Schreibmaschine die von Laurel. Dem Alkohol hat er mit Hilfe seiner Frau Ida (Nina Arianda) gerade entsagt. Oliver Hardy versüßte sich sein Leben mit zu vielen Frauen und leidet unter ständigem Geldmangel. Seine Lucille (Shirley Henderson) liebt ihn trotzdem und will, dass er sich zur Ruhe setzt.

Doch nach 16 Jahren gibt es immer noch Streit über den Film, den Hardy ohne Laurel gemacht hatte. Derweil haben „Abott & Costello" ihren Platz auf den Plakatwänden eingenommen. „Stan & Ollie" hat nicht den Anspruch, biografisch komplett oder komplett korrekt zu sein. Doch die Inszenierung von Jon S. Baird („Drecksau", 2013) ist komplett gelungen. In den Hauptrollen spielen Steve Coogan und John C. Reilly die beiden Legenden großartig.

„Stan & Ollie" wirkt anfangs wie eine erstaunliche Doppelbelichtung: Man kennt die Gesichter von Steve Coogan und John C. Reilly. Man kennt auch die Gesichter von Stan Laurel und Oliver Hardy, mit denen sie zusammenfallen. Schnell gehen sie völlig in ihren Rollen auf - faszinierend! Ebenso umwerfend, wie die beiden frustrierten Alt-Komiker immer wieder in ihre Rollen zurückfallen. Tolle Gags spielen sie gleichermaßen auf der Bühne und privat runter. Das „echte Leben" (dieses Films) setzt das Schema dieses vom Produzenten Hal Roach zusammengefügten Paares fort. Im rührenden Moment, als Hardy nach einem heftigen Streit und Herzinfarkt seinen Ruhestand ankündigt, setzt sich Laurel zu ihm ins Bett. Rührend komisch. Bei allen unterschiedlichen Sichtweisen auf das Auf und Ab ihrer Karriere bleibt eine große Zuneigung zwischen beiden.

„Stan & Ollie" ist die private Seite von Laurel & Hardy und eine rührende Tragikomödie, für alle, die alte Filme der beiden kennen. Wie Laurel & Hardy es taten, wiederholt er immer wieder die gleiche Routine. Einfach, aber kongenial.