27.9.11

Gerhard Richter Painting

BRD 2011 Regie: Corinna Belz 101 Min.

Bilderkunst im Kino, das meist vom Kommerz beherrscht wird: Er findet die Bilder schlecht, die er begreifen kann, sagte der noch etwas jüngere aus der DDR stammende Maler Gerhard Richter (geb. 1932) im Jahre 1960. Und: „Über Malerei zu reden, ist sinnlos." Das bei solch prinzipiell schwierigen Voraussetzungen ein sehr gelungener Dokumentarfilm über einen der erfolgreichsten deutschen Maler dieser Zeit entstand, ist ein kleines, ein schönes Wunder. Corinna Belz beobachtet Richter recht einfach beim Malen einiger großformatiger Werke. Man erfährt von seinen witzigen Assistenten etwas über die klassischen Farben, die er verwendet, begleitet die Vorbereitungen einer Ausstellung in New York. Und Richter spricht doch - über das eine Bild, das nur eine „hübsche Stelle hat, da in der Mitte". Aber selbst der Assistent glaubt nicht, dass „es diesmal so bunt bleibt" obwohl es „doch so angesagt ist, in der Welt da draußen." Letztendlich bleibt das Reden über Bilder hilflos, denn „das ist das ... das die irgendwie machen, was sie wollen. Ich hatte sie ganz anders angelegt." Aber der Film von Belz gewährt nicht nur wertvolle Einblicke, er hat Witz, Spannung und viel Zeit, sich in Richters Schaffen zu vertiefen. Ein Glücksfall von Film!

Love Life - Liebe trifft Leben

NL 2009 (Komt een vrouw bij de doctor) Regie: Reinout Oerlemans mit Carice van Houten, Barry Atsma, Anna Drijver 105 Min.

Der Originaltitel des niederländischen Erfolges aus 2009 „Komt een vrouw bij de dokter" beginnt wie ein schmutziger Witz, stellt sich aber schnell als sehr schales, verlogenes Melodram heraus: Wir sollen mit dem unsympathisch glatten Werbetypen Stijn leiden, der es ganz, ganz schwer hat, weil es ihn irgendwie beim Fremdvögeln stört, dass seine Frau Carmen (Carice van Houten) Krebs hat. Mehr ist eigentlich zum banalen TV-Filmchen für RTL nicht zu sagen, das vom Kennenlernen bis zur Hochzeit wie ein Werbeclip aussieht. Wenn dann die schlimme Nachricht kommt, legt sich eine stille Piano-Melodie über die weiterhin glatten Bilder. Das ist ebenso schal wie sein Spruch, dass er im Herz treu bleibt, während er bei jeder Gelegenheit andere Frauen vernascht. Das hat weder mit Liebe noch mit Leben was zu tun.

Wickie auf großer Fahrt

BRD 2011 Regie: Christian Ditter mit Jonas Hämmerle, Waldemar Kobus, Valeria Eisenbart, Nic Romm, Günther Kaufmann, Christoph Maria Herbst

Er hat einfach nichts gelernt: Noch immer versucht Wikinger-Chef Halvar (Waldemar Kobus) seinem viel zu cleveren Sohn Wickie (Jonas Hämmerle) furchtloses Wikinger-Gehabe aufzuzwingen. Der Überfall auf die Ritter geht aber vor allem deswegen schief, weil Schrecklicher Sven wieder vorher da war und ein keckes Mädel namens Svenja (Valeria Eisenbart) auch noch das letzte Schatzkästchen vor Wickies Nase wegklaut. Diese humorlose Göre betrügt und betäubt später noch das ganze Dorf. Doch was es mit der Karte und den entführten Eskimos auf sich hat, erfahren wir erst später. Denn nachdem Halvar entführt wurde, übernimmt nun gemäß der Tradition sein Sohn die Führung des räuberischen Rudels. Das findet zwar keiner toll, selbst Wickie nicht, doch irgendwer muss den Vater ja befreien. Beim Ablegen zur großen Reise nimmt der junge Wikinger noch den ganzen Bootssteg mit, doch letztendlich setzen sich Verstand und „Wir sollten erst mal drüber reden" gegen Dickschädel und Faust aufs Auge durch.

Wenn in einer arg künstlichen Grotte aus digitalem Eis der Hammer Thors erkämpft wird, wenn sich die eher albernen als starken Männer im Schlosse Svens in Ritterrüstungen verstecken, dann läuft dies alles genau nach dem Rezept, das schon in den Mythen der Edda und der Wickie-Pedia notiert ist. 08 bis 15 Gramm Abenteuer, dazu etwas Rumkasperln, am besten auf dem niederen Stromberg, bestanden von dürren Ulmen. Heraus kommt die Moral für kleine Helden, so zu handeln, wie sie es für richtig halten. Auch oder vor allem wenn der Vater ein großer Pirat ist.

„Wickie und die starken Männer" war 2009 ein Riesen-Erfolg. Da mag sich ein Produzent sein Goldnäschen gerieben und flugs noch einen Wickie-Film gemacht haben. Wieder wurden die alten Mären der beliebten Zeichentricksserie aus vergangenen Jahrzehnten nun in einen Realfilm mit Schauspielern aus Fleisch und Blut sowie Effekten aus Bits und Bytes gegossen. Doch heraus kam eine Fortsetzung, die noch ganz anständig erzählt, aber so gut wie keine Höhepunkte hat. Sowohl beim Spaß als auch beim Abenteuer. Das ist nicht mehr Michael „Bully" Herbig, schmerzlich vermisst man die Abwesenheit des Multitalents vom ersten Moment an. Nicht unbedingt wegen seiner Rolle als spanischer Chronist, aber auch. Doch vor allem als Macher hinter den Kulissen, als Produzent, Autor und Regisseur. „Wickie 2" fährt nur mit halber Fahrt. Jede Szene ist schwächer, das Abenteuer weniger abenteuerlich, statt großem Kino für Kinder nur ein Kinderfilmchen. Zwar kommt das Zielpublikum jetzt nicht mit jahrelanger Erfahrung und dem vergleichenden Maßstab besserer Wickies in den Saal, doch wenn Produzenten Filme „nur für Kinder" inszenieren, geht es meistens nicht gut. Kinder sind zwar klein, doch sie können ganz schön große Augen machen, wenn man es richtig anstellt, wie zuletzt beim „Sandmännchen". Regisseur und Co-Autor Christin Ditter, der mit seinen Remakes der „Vorstadtkrokodile" exzellente Kinder- und Jugendabenteuer auf die Leinwand gebracht hat, enttäuscht hier doch sehr. Hat man hier wirklich gespart? „Die (gar nicht) große Fahrt" wirkt in vielen Details einfacher gemacht, es fehlt der leicht verdrehte, schräge Witz, selbst die Darsteller scheinen nicht motiviert zu sein. Das kann man sich als großes und kleines Publikum im Gegenzug auch sparen. Falls sich die kleinen Dickschädel doch durchsetzen, lässt sich wenigstens guten Gewissens auf das überflüssige 3D verzichten.

26.9.11

Der große Crash - Margin Call

USA 2010 (Margin Call) Regie: JC Chandor mit Kevin Spacey, Jeremy Irons, Demi Moore, Paul Bettany, Zach Quinto 110 Min.

Börsenkrise - welche war das noch mal? Langsam verliert man den Überblick, wie oft schon massiv Steuergelder zur Absicherung von Spekulanten-Gewinnen abgezockt wurden. Wer sich das weiter gefallen lassen will und weiter glaubt, das Aktien-Zocker und Ackermann-Milliardäre „systemrelevant" sind, kann sich mit Detailansichten der ganz großen Umverteilung von unten nach oben unterhalten lassen: Der Börsenkrisen-Film „Margin Call" von JC Chandor erklärt, wieso damals eigentlich die letzte (oder vorletzte) Blase geplatzt ist, für die wir und einige Generationen nach uns noch Milliarden abbezahlen müssen. Es braucht nicht das geballte Schauspieltalent von Kevin Spacey, Jeremy Irons, Demi Moore, Paul Bettany und Zach Quinto um uns die Hintergründe klar zu machen. Aber sie schaffen es immerhin, einen Film zu diesem tödlich trockenen und hochkomplexen Thema spannend zu machen. Es ist der Tag Eins der Wirtschaftskrise, Ground Zero der Bankenpleiten. Wieder einmal werden bei einer Bank haufenweise Leute entlassen. Einer hinterlässt einem jungen „Überlebenden" einen Datenstick mit brenzligen Analysen. Seit Wochen schon schießt die Bank mit ihren Verlustschwankungen weit über alle Alarmsignale hinaus. Das Minus allein der Risikomanagement-Abteilung ist größer als der Börsen-Wert der gesamten Bank. (Nein, es dreht sich nicht um die Schweizer UBS.) Was tun? Fragte einst Lenin und jetzt Jeremy Irons als Banken-Boss, der einige Hundert Millionen im Jahr verdient, „um zu hören, wann die Musik aufhört zu spielen..." Die Party ist jetzt vorbei und nur noch der dümmste Anfänger fragt weiter jeden, was er denn so im Jahr abzockt. Innerhalb einer Nacht wird entschieden, ob die Blase platzt oder vertuscht wird. Jeder trifft dabei auch persönliche Entscheidungen und keiner kommt mit einer reinen Weste aus dem Banken-Gebäude. Selbst Kevin Spacey, der als Senior Sam scheinbar Moral verkörpert, lässt sich für seinen Verrat gut bezahlen. „Speak english - Sag es verständlich!" Mehr als einmal hörte man diesen Satz und tatsächlich versteht man ein paar finanzielle Dinge. „Margin Call" erklärt aber trotzdem nicht, warum wir alle für die Gewinne der Zocker und die Gehälter der Banker zahlen müssen, aber für den Preis einer Kinokarte kann man diesen Wahnsinn einfach mal genießen.

4 Tage im Mai

BRD, Russland 2011
Regie und Buch: Achim von Borries mit Pavel Wenzel, Aleksei Guskov, Andrej Merzlikin, Grigoriy Dobrygin, Angelina Häntsch, Gertrud Roll 97 Min.

Achim von Borries, Regisseur von „England!" (2001) und „Was nützt die Liebe in Gedanken" (2004), musste sieben Jahre auf seinen dritten Kinofilm warten. Er nutzt nun nach einigen TV-Krimis und Drehbüchern die Chance, das Historiendrama „4 Tage im Mai" stilsicher und mitnehmend zu präsentieren. Bei der internationalen Premiere auf dem 64. Filmfestival von Locarno zählte „4 Tage im Mai" zu den Favoriten für den Publikums-Preis der Piazza Grande.

Der Antikriegs-Film „4 Tage im Mai" dreht sich um die historische verbriefte Begebenheit einer kleinen russischen Truppe, die in den letzten Tagen vor der deutschen Kapitulation ein Waisenhaus an der Ostsee einnimmt. Sieben Soldaten unter ihrem Hauptmann (Aleksei Guskov) werden fast ausnahmslos freundlich empfangen. Die Leiterin stammt aus dem zaristischen St. Petersburg und spricht daher russisch. Wie auch der tragische, 13-jährige Held Peter. Als einziger Junge unter den Waisen will er Mann spielen und das blonde Dienstmädchen Anna beschützen. Während eine Kollegin von einer anderen Einheit verschleppt wurde, versteckt sich die junge blonde Frau auf dem Heuboden.

Als deutschen Truppenreste am Strand in Sichtweite nach Dänemark übersetzen wollen, erhofft sich der vom Nazitum infiltrierte Junge dorther Hilfe. Aber auch diese Soldaten haben genug vom Krieg. So arrangiert man sich in einer seltsamen Pattsituation. Im Waisenhaus ergibt sich ein fast paradiesisches Zusammenleben. Peter, der so gerne Krieg spielen wollte, findet im Hauptmann einen väterlichen Freund, der sieht in dem deutschen Kind seinen gefallenen Sohn. Als jedoch ein besoffener russischer Offizier die gemeinsame Feier des Kriegsendes unterbricht und Anna als Beute fordert, gibt es eine letzte Schlacht, in der Russen gegen Russen und Deutsche zusammen mit Russen kämpfen...

Die Idee zum Film stammte vom Hauptdarsteller und Ko-Produzent Aleksei Guskov, der als verhinderter Dirigent aus „Das Konzert" auch bei uns bekannt wurde. Erstaunlich friedlich und harmonisch zeigt sich Krieg in „4 Tage im Mai": Gräuel werden nur angedeutet, Schrecken ereignet sich allein im Off. „Ich habe den Jungen zu der wahren Geschichte hinzu erfunden und versuche, das Ganze aus einer naiven und kindlichen Perspektive zu erzählen," erklärte Achim von Borries die ungewöhnliche Sichtweise. So entsteht in dieser einzigartigen, isolierten Situation eine seltsame Patt-Stellung, bei der es immer wieder Treffen der feindlichen Truppen, aber lange keine Gefechte gibt.

Von Borries referiert bewusst nicht auf bekannte deutsche Antikriegs-Filme wie „Die Brücke", „Das Boot" oder „Ich war 19". Aber auch Guskov setzt sich von der viel zahlreicheren Tradition sowjetischer Kriegsfilme ab. Die ungewöhnliche Entscheidung, Russen von Russen spielen zu lassen und die Wehrmachts-Krieger mit Deutschen zu besetzen, sorgt ebenso wie die Beibehaltung der jeweiligen Sprachen ohne Synchronisation für größere Glaubhaftigkeit. Die ungewöhnliche Episode aus dem Mai 1945 fand eine ungewöhnliche, aber bis ins Detail durchdachte Umsetzung, die von Produzent Stefan Arndt (X-Filme) und von Borries sowohl gegen russische als auch gegen deutsche Vorbehalte durchgesetzt wurde. Mit dem Glücksfall eines interessanten und sicher viel besprochenen Films, der auch internationales Publikum stark bewegte.

Günter H. Jekubzik

Die Lincoln Verschwörung

USA 2010 (The Conspirator) Regie: Robert Redford mit James McAvoy, Robin Wright, Kevin Kline, Tom Wilkinson, Evan Rachel Wood 122 Min.

Preisfrage: Was hat der alte Abe Lincoln mit 9/11 am Hut? Da fällt einem zuerst nichts ein, aber nach Robert Redfords spannendem historischen Gerichtsfilm „Die Lincoln-Verschwörung", wird glasklar, was in den letzten zehn Jahren im Land der unbegrenzten Möglichkeiten alles an juristischen und verfassungsmäßigen Grundfesten eingerissen wurde. Zu Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861-65) soll ein junger Anwalt eine vermeintliche Mitwissende am Mord an Präsident Abraham Lincoln verteidigen. Nach anfänglichen Zweifeln engagiert er sich für eine bemerkenswerte Frau und für Grundprinzipien des jungen amerikanischen Rechtes, die von Angst- und Sicherheits-Politikern mit den Füssen getreten werden.

Der Mord an Präsident Lincoln während einer Theaterverstellung am 15. April 1865 ist ein bekanntes historisches Ereignis. Dass der Attentäter John Wilkes Booth auf der Flucht erschossen wurde, weiß man vielleicht auch. Dass aber eine ganze Gruppe von Verschwörern aus dem Süden angeklagt war und hingerichtet wurde, hört man hingegen selten. Unter ihnen befand sich Mary Surratt (Robin Wright), eine katholische Witwe aus dem Süden der noch nicht wieder vereinigten Staaten, in deren Washingtoner Pension sich die Verschwörer - unter ihnen ihr Sohn - trafen. Kurz nach dem Attentat übernimmt der Verteidigungsminister Edwin Stanton (Kevin Kline) das Kommando und ist sofort überzeugt, dass dies nicht die Tat eines Mannes war. Stanton will Rache an ein paar Sündenböcken, um die Nation zu einen. Neun linientreue Offiziere sollen in einem Militärgericht die Zivilisten verurteilen. Die Angeklagten werden mit Säcken auf dem Kopf hereingeführt, eine ihnen gemäß Verfassung zustehende Jury gibt es nicht, Zeugen werden beeinflusst. Das hört sich eindeutig nach Guantanamo an und sieht auch genau so aus. Nur der verdienstvolle Senator Reverdy Johnson (Tom Wilkinson) erkennt das schreiende Unrecht und übernimmt die Verteidigung von Mary Surratt. Doch als Südstaatler würde er in der aufgeheizten Stimmung nach dem politisch motivierten Präsidentenmord jede Chance seiner Mandantin verspielen, deshalb übergibt er das Mandat dem jungen, im Krieg für den Norden ausgezeichneten Kapitän Frederick Aiken (James McAvoy). Nach dem klassischen Schema des ungeeigneten Verteidigers nähert sich Aiken ihr und der Aufgabe sehr skeptisch. Die harte unbeugsame Frau voller Hass auf die Sieger schweigt in der Einzelhaft. Doch langsam wird ihm klar, das alles, wofür er vier Jahre gekämpft hat, in diesem Verfahren aufgegeben wird…

Beim allem Clooney-Hype wurde fast vergessen, dass auch Robert Redford in seinen Filmen ehrliches politisches Engagement an den Tag legt. Nicht unbedingt beim „Pferdeflüsterer", aber der Mann hat immerhin unbestechlich Watergate aufgeklärt und „Von Löwen und Lämmern" erzählt, die US-Außenpolitik zu einem amoralischen, rechtlosen Geschacher machen. Nun ist die Aussage der „Lincoln-Verschwörung" verblüffend einfach: Man ersetze die Südstaatler durch Moslems und der gemeine Amerikaner kann plötzlich was verstehen. Das klingt simpel, aber so wie Redford die Vorverurteilung, die Anfechtungen von Aikens Freunden, die gesellschaftliche Hexenjagd zeigt, bekommt die Situation satt Dramatik und die Figur einen Hauch von Kohlhaas. Das ist kein Grisham und scheinbar unspektakulär, aber bis zur letzten Minute packend, weil man es einfach nicht glauben will, dass Recht so verbogen wird.

Wenn eine Regierung den Boden der Demokratie verlässt, weil das Volk einen Sündenbock will, dann ist der von Autor James D. Solomon recherchierte Film trotz einer wie Naturlicht wirkenden Ausleuchtung der Innenräume (Kamera: Newton Thomas Sigel) nicht an historischer Genauigkeit im Erfühlen einer anderen Zeit interessiert. Fast jeder der grimmigen Befehle des von Kevin Kline furchterregend gespielten Verteidigungsministers klingt wie die martialischen Cheney-Sätze vom Verteidigungsminister und Vizepräsident, der die USA mehr als die wirren Gedanken des Hampelmannes Bush Junior beeinflusst hat.

Nach der Exekution von Mary Surratt beschloss das Oberste Gericht, dass keine Zivilisten von einem Militärgericht mehr abgeurteilt werden dürfen. Ein Rechtsgrundsatz, der 131 Jahre hielt - bis nach dem 11. September 2001. Eine letzte Szene Aikens mit dem Sohn von Mary Surratt, der seine Mutter hängen ließ und selbst von einem ordentlichen Gericht freigesprochen wurde, macht deutlich, dass Rechtsprechung zwiespältig und nicht unfehlbar bleibt. Doch Roberts Redfords Warnung, nicht „in Zeiten der Trauer der Inquisition zu verfallen", ist für alle westlichen Länder dringend notwendig. Anwalt Frederick Aiken verabschiedete sich von der Justiz und wurde Redakteur bei der gerade gegründeten Washington Post. (Die brachte dann mit Hilfe von Robert Redford den Watergate-Skandal ans Licht, aber das ist eine andere Geschichte.)

20.9.11

The Guard - Ein Ire sieht schwarz

Irland, Großbritannien 2010 (The Guard) Regie: John Michael McDonagh mit Brendan Gleeson, Don Cheadle, Liam Cunningham 96 Min. FSK ab 16

Dieser Bulle ist ein Knaller! Nicht nur weil er kaum mit der Wimper zuckt, wenn es mal richtig knallt in seinem kleinen, irischen Kaff Conamara. Als fünf Jugendliche voller Alk und anderer Drogen sich mit einem Frontalcrash vor Mauer aus dem Verkehr und dem Leben ziehen, bevor sie weiter andere gefährden, checkt Gerry Boyle (Brendan Gleeson) erstmal, welche Rauschmittel die Jungs noch nicht verbraucht haben. Und wirft sie selbst ein! What a beautiful fucking day! Wer sich jetzt über ein beiläufiges „Fuck" aufregt, sollte schnell abschalten, denn Boyle und sein Film sind nicht der Hauch „PC", politisch korrekt. „Fuck" lautet mindestens jedes zweite Wort in dieser Gegend. Trotzdem bleibt Boyle auch bei einem Mord in seinem Revier ungerührt. Einschussloch in der Stirn und Topfpflanze im Schoß - hier wollte der Mörder etwas sagen, doch Boyle ist ahnungslos und bleibt cool. Allein der neue, junge Kollege aus Dublin nervt mit viel Gequatsche und voreiligen Fehlschlüssen. Trotzdem ist es schade, dass sich der Film mit voreiligen Volltreffern schnell von ihm verabschiedet. Nun zeigt Boyle Gefühle. Als wirklich alle anderen Kollegen bestochen sind, seine Lieblings-Nutte von den Drogendealern als Drohung verprügelt wird und die mit Humor und heimlichen Drogen gepflegte Mutter stirbt, zeigt er sogar Aktivismus.

Boyle ist ein Knaller! Wie seine Bemerkungen bei einem Briefing mit dem frisch aus den USA eingeflogenen FBI-Agenten Wendell Everett (Don Cheadle): „Ich dachte nur Schwarze sind Drogendealer", meint Boyle in Bezug auf die Fotos der irischen Verdächtigen und in völliger Ignoranz der Hautfarbe von Everett. Es folgen noch heftigere Provokationen, aber Boyles Joker ist, dass einer der vier gesuchten Drogenschmuggler bei ihm im Leichenschauhaus liegt. Nun könnte man eifrig versuchen, die Landung einer Riesenladung Heroin zu stoppen. Doch der „Guard" (irisch für Polizist) hat seinen freien Tag und genießt ihn mit zwei Prostituierten in Polizei-Uniform! Der Typ ist nicht nur Ire sondern auch noch völlig irre. Was Everett zu der Bemerkung führt: Ich weiß nicht, ob du total dämlich oder total raffiniert bist. Das bleibt offen, wie anderes auch.

„The Guard" hat so viel schwarzen Humor, dass dieser Film nicht schwarz-weiß, sondern schwarz-schwarz sein müsste. Doch seine Farben sind ebenso grell wie die Musik mit Cha-Cha-Cha und Calexio. Im Stil erinnert er an „Sexy Beast", doch hier steht die klasse Urgewalt Brendan Gleeson zentral, eine einmalige Erscheinung. Gleeson spielte mal auf IRA-Seite „The General" („Der Meisterdieb von Dublin"), und bei „Harry Potter" den Alastor 'Mad-Eye' Moody. Martin McDonagh, der Bruder von Regisseur John Michael, setzte Gleeson trefflich ein in „Brügge sehen... und sterben?" (2008).

Wobei sich John Michael McDonagh bei seinem vielfältigen Humor keineswegs auf seinen Star verlässt. Da werden auch die bösen Jungs eingeführt, während sie über Literatur und Popsongs philosophieren. Ihr wahnsinnigster Killer kennt zwar nicht den Unterschied zwischen Soziopath und Psychopath, aber gehört so oder so zu diesem Club und mag Chet Baker. Beim Jogging am Strand erklingt nicht irisches Geleier sondern Mexikanisches von Calexio. Ein ungewöhnlicher, aber trefflicher Spaß mit viel frechem und schwarzem Humor.

Hell

BRD, Schweiz 2011 (Hell) Regie: Tim Fehlbaum mit Hannah Herzsprung, Lars Eidinger, Stipe Erceg, Angela Winkler, Lisa Vicari 86 Min. FSK ab 16

In nur fünf Jahren verwandelte die Erderwärmung nach heftigen Sonneneruptionen alles in pflanzenlose Ödnis. Das Jahr 2016 präsentiert sich in Tim Fehlbaums Debütfilm „Hell" als gleißende, lebensfeindliche Welt, in der ein paar Überlebende sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Die Strahlen der Sonne verbrennen nackte Haut sofort. Verhüllt wie Beduinen versuchen der Fahrer Phillip (Lars Eidinger) mit den Schwestern Marie (Hannah Herzsprung) und Leonie (Lisa Vicari) die Berge zu erreichen, dort soll es noch Wasser geben, dort soll noch Leben möglich sein. Auch Benzin und Nahrung sind knapp. Ein Halt an einer verlassenen Tankstelle ist immer ein Risiko. Im dunklen, verwüsteten Shop lauert ein Mann, der das Trio erst bestehlen will, dann aber aufgrund seiner Mechaniker-Kenntnisse von Phillip mitgenommen wird. Tom (Stipe Erceg) zeigt sich im Gegensatz zum bisherigen egoistischen Anführer als freundlicher und sozialer Begleiter. Als ein umgestürzter Hochspannungsmast zu einer Falle wird und die junge Leonie von einer wilden Horde entführt wird, leitet Tom die Befreiung an, die allerdings völlig misslingt. Verzweifelt und voller Schuldgefühl folgt Marie den Spuren der Horde und trifft in einer Kirche auf eine alte, hilfsbereite Frau (Angela Winkler). Die lädt ein, sich im Hof ihrer Familie zu erholen. Marie lernt eine seltsame Sippe kennen und entdeckt ein schreckliches Geheimnis...

Die deutsche Variante von „The Road" ist ein äußerst spannender Genre-Film, den man klein und dreckig nennen würde, wäre er nicht so hell und in jeder Hinsicht treffend inszeniert. Von den ersten internen Spannungen, die eskalieren, als ein Fremder im Auto mitfährt, bis zu heftigen Action-Einlagen wenn sich die Protagonisten unter Kannibalen wiederfinden, hält der HFF-Absolvent Tim Fehlbaum in seinem ersten Langfilm die Spannung enorm hoch. Das gilt auch für die Ästhetik, die scheinbar einfach, aber ungemein effektiv mit überbelichtetem Material arbeitet. Die Figuren funktionieren - von der einfachen Gegenüberstellung Feigling/Held bis zum komplexen Verhältnis der beiden Schwestern. Besonders effektiv tragen die Darsteller zum guten Filmvergnügen bei: Hannah Herzsprung („Vier Minuten", „Der Baader Meinhof Komplex"), Lars Eidinger („Alle Anderen"), Stipe Erceg(„Die fetten Jahre sind vorbei") und Lisa Vicari („Hanni & Nanni") beeindrucken nachhaltig. Angela Winkler als gottesfürchtige Kannibalin ist ein genialer Besetzungs-Coup. So futuristisch das apokalyptische Szenario ist, im Thema und in der Gewaltanwendung altmodisch kommt „Hell" richtig altmodisch daher. Wie es sich für einen Genre-Film gehört. Als Zugabe zur massen-kompatiblen Unterhaltung brennen sich die eindrucksvollen Bilder in die Netzhaut ein.

Eine offene Rechnung

USA 2011 (The Debt) Regie: John Madden mit Helen Mirren, Sam Worthington, Jessica Chastain, Jesper Christensen, Marton Csokas, Ciarán Hinds, Tom Wilkinson 113 Min. FSK ab 16

Israel 1966: Drei junge Agenten des Mossad kehren von einem Auftrag zurück. Rachel, David und Stefan sind die jüngsten in der Geschichte des Geheimdienstes und sie werden Helden, weil sie in Ostberlin Dieter Vogel, den „Chirurgen von Birkenau", eine Art Mengele, der Menschen für medizinische Experimente quälte, umgebracht haben. Dreißig Jahre später ist Sarah, die Tochter der Rachels, immer noch sehr stolz auf die Taten der Mutter und veröffentlicht ein Buch darüber. Doch vor der feierlichen Präsentation wirft sich David (Ciarán Hinds) vor ein Auto, als ihn Stefan abholen lassen will. Auch der Umgang der einstigen Ehepartner Rachel und Stefan bei der Veröffentlichung macht klar, dass hier etwas nicht stimmt. Die Version der Heldentat, die wir in einer Rückblende sahen, und in der Rachel den fliehenden Vogel erschießt, entspricht nicht der Wahrheit. In zwei fließend miteinander verknüpften Zeitebenen erzählt nun „Eine offene Rechnung", was wirklich geschah, und schon die besondere Eleganz dieser Montage macht klar, dass dies auch ein besonderer Film ist.

„Eine offene Rechnung" ist das neueste Werk von John Madden, der zur Jahrhundertwende mit
„Corellis Mandoline" (2001), „Shakespeare in Love" (1998) und „Ihre Majestät Mrs. Brown" (1997) die Aufmerksamkeit erhielt, die er verdient. Ganz anders als die abgebrühten Killer aus Spielbergs „München" sind die Mossad-Agenten hier junge, unsichere Menschen, die in ein unwirtliches Ost-Berlin geworfen werden. Vor allem Rachel (Jessica Chastain) nimmt ihr erster Außeneinsatz sehr mit. Auch wenn der vermeintliche Agenten-Thriller von der Entführung Vogels bis zur gescheiterten Flucht per S-Bahn immer spannender wird, geht es nicht nur nebenbei um eine schwierige Dreiecks-Geschichte und immer um die Wahrheit. Nachdem Vogel nämlich psychologisch sehr geschickt seine jungen Entführer manipuliert und schließlich entkommen kann, entschließen sich die frustrierten Idealisten, „für Israel" ein Lüge zu erzählen. Während Stefan wie geplant auf ihr seine politische Karriere aufbaut, frisst sie den sensibleren David auf. Schon im Werben um Rachel zeigte sich der Unterschied zwischen dem forschen und dem schüchternen Mann. Dreistigkeit siegt und vergiftet alles. So entschließt sich die alte Rachel (Helen Mirren) noch einmal zu einem Agenten-Einsatz, um alle von der Lüge zu befreien...

John Madden kann Spannung, aber auch vieles andere! Unterstützt von einer großartigen Besetzung packt das Remake des israelischen TV-Films „Ha Hov" (2007) von Assaf Bernstein, der bei uns als „Der Preis der Vergeltung" lief, atmosphärisch und psychologisch. Einen Widerhaken zum Nachdenken setzt die Geschichte - wie schon „München" - im Sinne des deutschen TV-Titels: Waren (und sind) staatliche Vergeltungsaktionen tatsächlich positiv. Gibt es ein gerechtes Morden?

Auch wenn sie nur durch eine dicke Narbe auf der Wange als die gleiche Person in zwei Lebensabschnitten zu erkennen sind, bilden Helen Mirren und Jessica Chastain mit ihrer Figur Rachel die Doppelseele des Films. Chastain, die mit ihren Rollen in „Tree of Life", „Al Pacinos Salome" und „Killer Joe" ein grandioses Leinwand-Jahr hat, ist auf verblüffende Wirkung abonniert. Mirren wirkt lange nicht wie eine ehemalige Agentin, bis sie im eindringlichen Finale dem Vergeltungswahnsinn einen ungeheuren Schlusspunkt setzt.

Attack the Block

Großbritannien 2011 (Attack the Block) Regie: Joe Cornish mit Nick Frost, Jodie Whittaker, Luke Treadaway, John Boyega 88 Min. FSK ab 16

Regisseur Joe Cornish ist der Autor von Spielbergs „Die Abenteuer von Tim und Struppi", der im Oktober in die Kinos kommt. Die super gelungene Science Fiction-Action „Attack the Block" hat auch einen Tim und einen Struppi: Der jugendliche Held Moses (John Boyega) lebt in einem heruntergekommenen Wohnblock von South London. Struppi ist ein Alien, eine Mischung aus Gorilla und Werwolf, das in der akustischen Tarnung der Silvester-Knallerei auf der Erde landet. Nach dichtem und spannendem Auftakt, nach 20 Minuten Schaulaufen mit der seltsamen Jagdtrophäe, die Moses erlegt hat, geht die Schlacht ums Viertel los. Denn in Folge des struppigen Vorboten sind viele aggressive Aliens im Anflug.

Nun waren Moses und seine Gang bislang keine netten Jungs. Kurz vor der Begegnung der unheimlichen Art haben sie noch die Nachbarin Sam (Jodie Whittaker) ausgeraubt. Nun sitzen Aggressoren und Opfer zuerst im gleichen Polizei-Auto und dann im selben Boot. Wie bei „Cowboys & Aliens" raufen sich die verfeindeten Gruppen zusammen, um ihren „Block" zu retten. Da liefern sich die Jungs ein Gefecht mit dem Samurai-Schwert auf der Pizzaboten-Vespa. Ansonsten gerieten die Gefährte jugendgerecht - wenigstens etwas in diesem Film: BMX-Rad, Kinder-Moped und Polizei-Wanne.

Die nächste Invasionswelle ist eine deutlich gefährlichere Evolutions-Stufe und jetzt sind die bissigen Biester auch zu sehen - vor allem ihre neon-leuchtenden Zahnreihen. Die Aliens wirken allerdings nicht besonders intelligent, was dem Drehbuch einige Freiheiten lässt. Logische Lücken werden jedoch hervorragend von einer variantenreichen Figurenpalette ausgefüllt. Neben Sam und den Jüngern von Moses gibt es das ängstliche weiße Bürgersöhnchen, den psycho-unsympathischen Dealer und die beiden kleinen Jungs, die mitkämpfen wollen, aber nicht ernst genommen werden - zu Unrecht.

Basierend auf der einfachen Handlungsregel „actions have consequences" (Aktionen haben Konsequenzen) gestaltete Autor und Regisseur Joe Cornish „Attack the Block" immer wieder schön spannend bis Blut spritzt und Fezen fliegen. Geschickt wurden im klasse Genre-Spaß mit dem Licht auch die Produktionskosten runtergedimmt, so sehen die Aliens lange glaubwürdig aus. Am Ende zeigt sich, dass eine Gras-Plantage im Wohnblock ganz nützlich sein kann. Und dass die Helden auch in kleinen, raffinierten Produktionen aus dem gleichen Holz geschnitzt sind, sowie trotz aller sozialer Erniedrigung an der nationalen Flagge hängen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Gianni und die Frauen

Italien 2010 (Gianni e le donne) Regie: Gianni Di Gregorio mit Gianni Di Gregorio, Valeria De Franciscis Bendoni, Alfonso Santagata, Aylin Prandi 90 Min.

Regisseur Gianni Di Gregorio ist wieder groß im Bild der überforderte Senior Gianni. Der Arbeitslose hat nichts zu tun, er kümmert sich nur um Tochter, Frau und Mutter. Vor allem „mamma!" bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Immer wieder klingt das Notfall-Handy. Diesmal soll Sohnemann den teuren Champagner rausbringen, weil Mutter mit andren alten Ladies in Garten ihrer Villa pokert. Und die Erdbeeren bitte auch noch, falls er gerade Zeit habe. Am Abend wird es dann ernst: Mutter geht es ganz schlecht - der TV-Empfang ist gestört! Gianni kommt, wackelt kurz an der Antenne und lächelt nur noch müde ... tutto bene. Denn aus Geldsorgen will er die Mutter ums schön gelegene Erbe bringen. Aber auch wegen der jungen polnischen Pflegerin kommt Gianni gerne vorbei, um sich ernsthaft zu verlieben und ganz peinlich einen albernen Gockel zu geben. Zwischendurch führt er noch den Bernhardiner der ebenfalls reizvoll jungen Nachbarin aus, trinkt viel, mit alten Damen und alleine. Frauen überall und er mit einer Midlifecrisis mittendrin.

„Gianni und die Frauen" ist die ungebrochene Fortsetzung des sympathischen Sommerfilms „Das Festmahl im August". Ein lustiges Stück Senioren-Machismo in Italien mit gutem Timing und Gianni Di Gregorio selbst als hervorragenden Hauptdarsteller. So albern seine Figur ist, es ist unnachahmlich wie dessen Hoffnungen im faltigen Bassett-Gesicht dahinschmelzen, als er erfährt, dass die polnische Pflegerin die Villa längst geerbt hat. Da macht selbst die ziemlich ausgelutschte Viagra-Episode Spaß, die Gianni nur einen steifen Hals besorgt. Leider führen Party-Tropfen der wilden Nachbarin zu einer völlig übersteigerten, glatt fellinesken Frauen-Vision beim sehr unrunden Ende. Aber das sind die einzigen Wermuts-Tropfen in dem typisch-italienischen Filmspaß, den man(n) sich ruhig ansehen kann - wenn Alice Schwarzer nicht in der Nähe ist.

14.9.11

Mein Stück vom Kuchen

Frankreich 2011 (Ma Part Du Gâteau) Regie: Cédric Klapisch mit Karin Viard, Gilles Lellouche 109 Min. FSK ab 12

Cédric Klapisch, der 2002 mit der multinationalen Erasmus-Komödie „L'auberge espagnole" bekannt wurde, inszeniert nun das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Sozialwelten in Frankreich: In einer Parallelmontage laufen die Leben der nach 20 Jahren Betriebszugehörigkeit entlassenen France (Karin Viard) und des Börsenspekulanten Steve (Gilles Lellouche) gegeneinander, bis sie sich in seiner Pariser Wohnung treffen. Denn France muss einen Job als Hausangestellte annehmen und ihre drei Töchter in Dünkirchen zurücklassen. So steht das leere Luxusappartement gegen ihre überfüllte kleine Wohnung. Sein Ausflug nach Venedig gegen die dreckige Motocross-Halde hinter der Raffinerie. Die Glastürme der Banker gegen das raue Klima Dünkirchens mit der kämpferischen französischen Arbeiterklasse. Zwar ist der Spaß eindeutig auf der Seite von France, etwa wenn sie im Discounter mit ihren Töchtern zu „Pretty Woman" tanzt, doch ihr Mut und Durchhaltewillen können die Bitterkeit der Situation nur kurzzeitig überspielen. Dass France sich dann auch noch um seinen kleinen Sohn kümmern muss, den die Mutter wohlweißlich heimlich abliefert, derweil ihre eigenen Kinder weit weg sind, ist besonders perfide.

Während France den Boden wischt (und das arbeitende Frankreich am Boden liegt), erklärt Steve ihr, wie er gerade mit Spekulationen zigtausend Euro in zwei Stunden abzockt. Dass alles aktuelle Krisengerede genau wegen dieses untätigen Gewinnstrebens stattfindet, macht Steve nicht sympathischer. Aber er war schon ekelhaft, als er sich ein Model fürs Bett kaufte. Doch die Abneigung ist noch steigerbar! Bis es im Finale endlich mal zur direkten Begegnung desjenigen, der mit seinen Zockereien Tausende Menschen entlässt, und seinen Opfern kommt. In einem Akt großer Solidarität gibt es einen Hauch von Gerechtigkeit, aber kein Happy, sondern ein Open End.

„Mein Stück vom Kuchen", mit dem übrigens auch das Tortendiagramm gemeint ist, kommt dank der prallen Spielfreude von Karin Viard nicht sozialkämpferisch streng rüber, sondern tatsächlich als Komödie.

Vater und Sohn DVD

BRD, NL, Fr 2003 (Otets i syn) Regie: Alexander Sokurov mit Andrej Shchetinin, Alexej Neymshew, Alexander Razbash, Marina Zasukhina 84 Min.

Piffl Medien

Es wird noch etwas dauern, bis der frisch gekürte Venedig-Sieger „Faust" in unsere Kinos kommt - bislang gibt es keinen Starttermin für Sokurows Film. Trösten kann man sich derweil mit einem alten Schätzchen, das ästhetisch ebenso faszinierend, dafür aber etwas heller und fröhlicher ausfällt: Die deutsch-russische Produktion „Vater und Sohn" aus dem Jahre 2003.

In einem Zustand zwischen Traum und Erwachen spielen, raufen, reden, schweigen Vater und Sohn. Beide sind Soldaten, sich ihres Körpers bewusst, es gibt ganz lange intensive Szenen - wie zwischen einem Liebespaar. Vater und Sohn turnen in einem fast impressionistischen Set zwischen den Dächern hoch über der Neva. Große Dramatik braucht es hier nicht, der Sohn muss mit einer beendeten Beziehung kämpfen, der Vater wird an Kriegswunden erinnert. Es herrscht in ausgesuchten Settings eine Harmonie, die man selten erlebt. Alles ist wunderbar gelungen, Bilder, Dialoge, der sanfte Soundtrack, wie der Junge sein gebrochenes Herz ausdrückt, fragt, ob das noch oft geschehen wird. Die Antwort des Vaters: "Das wird ein Leben lang passieren". Der russische Meister Sokurow hat wieder wie bei seinen Elegien Farben und Bilder verflacht, verzerrte Winkel, milchiges Licht und der Weichzeichner verstärken die Traumstimmung.

13.9.11

Über uns das All - Interview mit Regisseur Jan Schomburg

Jan Schomburg präsentiert seinen Debütfilm in Geburtsstadt Aachen

Beflügelt von positiven Reaktionen kam Jan Schomburg am Montag in seine Geburtsstadt, um im Apollo „Über uns das All" zu präsentieren. Sein Spielfilm-Debüt beeindruckt mit ebenso berühmten wie exzellenten Darstellern: Sandra Hüller („Requiem",„Brownian Movement") und Georg Friedrich („Mein liebster Feind"), dessen neuester Film „Faust" erst am Sonntag den Goldenen Löwen in Venedig erhielt. Günter H. Jekubzik traf den Regisseur.

Auf den ersten Blick meint man, da will sich jemand hinter dichtem Vollbart und schwarzer, schwerer Brille verstecken. Doch ein breites, offenes Lachen zeigt: Hier ist einer ganz zufrieden mit der Rolle, als Debütant durch NRW-Städte zu ziehen. Die Tour begann schon bei der Berlinale im Februar, wo die von der Filmstiftung NRW geförderte WDR-Produktion den „Prix Europa Cinemas" erhielt. Und setzt sich in ein paar Tagen auch in Berlin fort. Dann will Schomburg bundesweit sehen, wie der Film ankommt und welche Interpretationen es zum Titel gibt.

„Es macht total Spaß zu hören, was die Zuschauer sagen und was sie für Fragen stellen." Schomburg zeigt noch keine Zeichen von Müdigkeit im Café des Apollos vor der Vorstellung. Der Titel regt zum Rätseln an, genau wie der Rest des Films, in dem eine Frau nach dem Selbstmord ihres Mannes entdeckt, dass dessen Leben eine komplette Lüge war. Jan Schomburg interessierte eine „Faszination für Situationen im Leben, in denen unvermittelt die komplette Vergangenheit sich umdeutet, in denen alles, was man für unumstößlich hielt, zu einer vagen, formlosen Masse wird..."

16 Jahre lang, fast die Hälfte seines eigenen Lebens, trug der nun 36-Jährige die Idee zu diesem Film mit sich rum. „Sie ist immer mehr gereift im Hinterkopf: Es hat mich immer wieder bewegt, dass man mit jemandem zusammenlebt, den man zu kennen glaubt und merkt plötzlich, dass man ihn nicht kennt. Das fand ich aufregend." Dies alles muss im Film Schauspielerin Sandra Hüller in ihrem Gesicht ausdrücken, eine sehr passende Rolle, doch Schomburg ist relativ spät auf sie gekommen. Er kannte ihre Filme, fand sie aber immer „zu unmittelbar und real". Dann standen sie zufällig zusammen auf einer Silvesterparty und er wusste: „Das muss die Martha sein!" Die spätere Arbeit mit den Schauspielern verlief ungewöhnlich sorgfältig, der Regisseur probte viel ohne Kamera: „Für mich ist bei der Arbeit mit Schauspielern im Allgemeinen und bei Sandra im Besonderen der zentrale Prozess vor dem eigentlichen Dreh. Es geht darum, im Vorfeld ein vertrauensvolles und intimes Verhältnis zueinander zu entwickeln, damit man diesen ja oft sehr anstrengenden Weg gemeinsam gehen kann."

So macht es auch der Brite Mike Leigh, der ist aber schon 68 und hat mit zig Filmen viele große Preise gewonnen. Überhaupt wirkt Schomburg, der selbst die Filme von Dominik Graf schätzt, sehr souverän bei der Film(presse)-Arbeit, ohne Abgedroschenes abzusondern. Erst nach der Frage, welcher Teil des Filmemachens ihm am meisten liege, wo er am besten sei, wird der Regisseur um glatte 20 Jahre unsicherer, verlegen und windet sich nicht nur in der Antwort, sondern auch richtig körperlich.

Als Ergebnis der intensiven Vorbereitung nimmt man der Figur Martha schließlich auch ab, dass sie, statt zu trauern, einen ganz anderen Mann an die Stelle des Verstorbenen setzt und ihr altes Leben quasi kopiert. Eine seltsame Duplizität stellt der auch kluge Film selbst dar: Es gibt tatsächlich noch einen Regisseur mit Vornamen Jan, der auch aus Aachen stammt und einen Film über einen Arzt gedreht hat, der sich in Marseille umgebracht hat sowie über eine Frau, die entdeckt, dass sie über diesen Mann nichts wusste. Der andere Film heißt jedoch „Auf der Suche" und stammt von Jan Krüger, den Jan Schomburg vom Studium an der Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln sogar persönlich kennt. Doch beide Projekte entstanden vollkommen unabhängig.

Es war auch ein seltsamer Zufall, der zu Jan Schomburgs Geburt in Aachen führte. Sein Vater studierte in Aachen, fand seine Frau aber aufgrund des Frauenmangels an der Technischen Hochschule vor einem Schwarzen Brett in Köln. Der kleine Schomburg ging noch in die erste Klasse der Grundschule in der Ahornstraße, bevor er mit sechs Jahren nach Hamburg zog. Schon früh schrieb er Geschichten, später kam die Begeisterung für Fotos hinzu und mit 16 ein erster Film auf Super8, was schon damals ziemlich „retro" war. Nach einem Studium an der Kunsthochschule Kassel folgte die KHM in Köln, wo er noch immer lebt und arbeitet. Mit Freunden hat er die Internet-Serie „www.drverbier.de" gedreht. Sein nächster Film soll wieder mit der Kölner Produktion Pandora und dem WDR entstehen. Es geht dann, „um eine Frau, die ihre Erinnerung komplett verliert und der Mann bringt ihr bei, wer sie eigentlich war. Man kann einer Identität beim Wachsen zusehen." Ab Donnerstag kann man diesem ebenso talentierten wie symphytischen Regisseur beim „Wachsen" seiner Karriere zusehen - „Über uns das All" läuft täglich im Apollo in der Pontstraße.

Über uns das All

BRD 2011 Regie: Jan Schomburg mit Sandra Hüller, Georg Friedrich, Felix Knopp 90 Min. FSK ab 12

Mitten ins nette Beziehungsleben wirft Martha (Sandra Hüller) den Satz „Sag mir endlich mal die Wahrheit!" Ein nichtsahnendes Spiel, genau wie später im Bett die Variante, es hätte einen anderen Mann gegeben. Tatsächlich sind Martha und Paul seit Jahren zusammen, nun wollen sie gemeinsam nach Marseille, der Mediziner hat dort einen neuen Job. Paul (Felix Knopp) aber will nicht richtig weg. Martha lächelt nur darüber, verpasst ihn aber doch knapp, als er ein paar Tage früher vorfährt. Dann stehen zwei Polizistinnen in der fast leergeräumten Wohnung. Diesmal will Martha nicht wahrhaben, dass er sich auf einem französischen Parkplatz im Auto mit Abgasen umgebracht hat.

Beeindruckend ist die Irrationalität, das Nicht-Verstehen-Können, das Schizophrene von Aussagen wie „Ich erledige die Formalitäten lieber jetzt, weil ich das alles noch nicht verstanden habe." Dann folgt ein erster Gefühlsausbruch beim Auswählen des Sarges, doch die wahre Verwirrung Marthas beginnt erst: Pauls Promotion, die angeblich ein wissenschaftlicher Meilenstein war, erweist sich als Fantasieprodukt. Der Doktorvater kennt niemanden dieses Namens. Paul war seit vier Jahren exmatrikuliert, seine Arbeit komplett abgeschrieben.

Martha versucht, sich in das Leben des Verstorbenen zu versetzen. Ganz konkret in seine Socken. Sie kramt in den schon gepackten Umzugskisten nach Spuren, hört sich ihre eigenen Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter an. Ihre Situation wird immer spannender, immer seltsamer. Denn „Über uns das All", der prominent besetzte Debütfilm von Jan Schomburg, geht nicht in Richtung Entdeckung eines Geheimnis. Das Psychogramm einer ungewöhnlich reagierenden Frau bleibt im Fokus.

Martha sucht an der Uni nach Paul, trifft dort auf einen Geschichts-Dozenten aus Wien. Unvermittelt wird dieser Alexander Runge (Georg Friedrich) zum Ersatz für Paul erwählt - mit bizarren Ergebnissen. Martha macht ein „Vertigo" mit umgedrehten Geschlechtsrollen, legt sich den neuen Mann einfach an die Stelle des Alten. Im Bett und auch sonst. Als der plötzlich die gleichen Dinge sagt und sogar eine „Zusage für Marseille" erhält, ist sie ebenso erstaunt wie das Publikum. Man erinnert sich an Alexanders erste Vorlesung über die „Duplizität" in der Geschichte...

Ein starker Cast scheint die Basis des erstaunlichen Debüts vom Autorenfilmer Jan Schomburg. Sandra Hüller wurde nach „Requiem" in vielen Rollen gefeiert, zuletzt spielte sie in „Brownian Movement" der Niederländerin Nanouk Leopold eine Nymphomanin. Georg Friedrich verkörperte den Famulus Wagner im Venedig-Sieger „Faust" und „Mein liebster Feind" (neben Moritz Bleibtreu). Wie der Brite Mike Leigh probte Schomburg vor dem eigentlichen Dreh intensiv mit den Schauspielern: „Es geht darum, im Vorfeld ein vertrauensvolles und intimes Verhältnis zueinander zu entwickeln, damit man diesen ja oft sehr anstrengenden Weg gemeinsam gehen kann." Dabei darf die gewagte Story nicht übersehen werden. Irritationen gibt es in fast jeder Szene, ganz abgesehen von scheinbar ganz abstrusen Wendungen, von einem Perspektivenwechsel mittendrin. Die große Kunst liegt darin, dass der Film mit diesen mutigen Twists, den doppelsinnigen Dialogen und den immer wieder mal besonderen Bildern die Aufmerksamkeit fesselt und nicht verschreckt.

Jan Schomburg interessierte eine „Faszination für Situationen im Leben, in denen unvermittelt die komplette Vergangenheit sich umdeutet, in denen alles, was man für unumstößlich hielt, zu einer vagen, formlosen Masse wird..."

Eine seltsame Duplizität stellt der Film selbst dar: Es gibt tatsächlich noch einen Regisseur mit Vornamen Jan, der auch aus Aachen stammt und einen Film über einen Arzt gedreht hat, der sich in Marseille umgebracht hat sowie über eine Frau, die entdeckt, dass sie über diesen Mann nichts wusste. Der andere Film heißt jedoch „Auf der Suche" und stammt von Jan Krüger. Dessen Suche findet in Marseille statt und verharrt länger im Vergangenen. Schomburg hingegen verfolgt das Unerwartete.

Shanghai

USA 2010 (Shanghai) Regie: Mikael Håfström mit John Cusack, Gong Li, Chow Yun-Fat, David Morse, Ken Watanabe 104 Min.

„Shanghai" ist von einer super west-östlichen Besetzung bevölkert: John Cusack, Gong Li, Chow Yun-Fat, David Morse und Ken Watanabe tummeln sich 1941 in der letzten freien Stadt Chinas. Zwischen den herrischen Japanern und den noch nicht offiziell eroberten Chinesen können die Amerikaner und Europäer in den verschieden Sektoren der quirligen Stadt nicht viel tun - außer sich zu vergnügen. Doch Paul Soames (John Cusack), der mit der Bremen aus Berlin kommt und nicht nur deswegen im Verdacht steht, ein Nazi-Freund zu sein, will den Tod eines Freundes aufklären. Mit der schwachen Tarnung als Journalist kommt der amerikanische Spion Soames hinter geheime Verhandlungen japanischer Militärs und deutscher Ingenieure, bei der es um Blauzeichnungen neuer Torpedos geht. Da der Lebemann seine Agenten-Aufgabe ernst nimmt, verführt er noch auf der Überfahrt die Gattin des deutschen Botschafters (Franka Potente) und verfällt der Lieblings-Frau (Gong Li) des mächtigsten chinesischen Gangster-Bosses Anthony Lan-Ting (Chow Yun-Fat). Auch deshalb gerät der forsche Fremde in Konkurrenz mit dem heimlichen Machthaber der Stadt, dem japanischen Offizier Tanaka (Ken Watanabe).

Gute Schauspieler, faszinierende Bauten, große Kulissen, sehr cool gestylte Kostüme - und trotzdem kann „Shanghai" nicht in seinen Bann ziehen. Dieses chinesische „Casablanca" bemüht den Off-Kommentar wie in der Schwarzen Serie und selbstverständlich tappt Soames direkt in eine Falle, auch wenn die Lady nicht blond ist. Gong Li hat als Anna die beste Rolle: Deren Vater wurde von den Japanern ermordet, zum Schutz ging sie eine Ehe mit dem Mafia-Boss ein und arbeitet trotzdem für den Widerstand. Gong Li zeigt sehr viele Gesichter, verführerisch, müde, gequält aber auch hier springt der Funke nicht über. Nur für Sekunden gibt es einen Hauch Wong Kar-Wai. Liegt es an der schwächeren Musik des Deutschen Klaus Badelt?

Regisseur Mikaël Hafstrom („The Rite"), der schon 2007 im reizvollen Horrorfilm „Zimmer 1408" mit Cusack zusammenarbeitete, kann mit seinem Star diesmal nicht die ansonsten eindrucksvolle Leinwandpräsenz erzeugen. Die Figur des ein Spions, „der ein gebrochenes Herz hat, aber das ist so lange her, dass er es nicht im Alkohol ertränken muss" ist zu abgegriffen, um noch zu packen.

Am spannendsten ist, wie sehr die Figur Cusacks dem berühmten Sowjet-Spion Richard Sorge nachgebaut ist: Dieser tarnte sich in Japan ebenfalls mit Nazi-Sympathien, schrieb für die Frankfurter Zeitung und warnte vergebens vor dem Angriff auf Pearl Harbor. Eine Erwähnung des ehemaligen Wirtschaftswissenschaftlers an der TH Aachen gibt es nicht und auch sonst nichts Erwähnenswertes.

Columbiana

Frankreich, USA 2011 (Colombiana) Regie: Olivier Megaton mit Zoe Saldana, Jordi, Cliff Curtis, Lennie James 107 Min. FSK ab 12

Eine seltsame Blume des Bösen wuchert in dunklen Kinonischen: Mit dem fauligem Gestank überkommener Racheprinzipien bringt Produzent Luc Besson wieder einem kleinen Mädchen das Morden bei. Nach Mathilda in „Léon" und „Nikita" wird nun die nach einer Orchidee benannte Cataleya zur regional anders eingefärbten Killer-Maschine. In Kolumbien wurden ihre Eltern umgebracht - Gangster mit mehr Waffen als Besteck in der Küche. Während die geliebten Erzeuger im Kugelhagel sterben, flieht das Mädchen recht einfach mal durch das Fenster und legt dabei Fähigkeiten eines Stuntman an den Tag. Kaum mit wichtigen Ganoven-Daten von der CIA in die USA transportiert, verschwindet sie auch aus den Griff der US-Behörden, gelangt nach Chicago zu ihrem Onkel, auch ein brutaler Verbrecher. Hier kann Cataleya endlich zu rührseligen Latino-Klampfenklängen ihre Tränen loslassen. Bevor sie vermeintliche coole Sätze wie „Ich will Killer werden" sagt, die nur lustig sind, wenn man jede Hoffnung auf Menschlichkeit aufgibt. 15 Jahre später hat sie 22 Menschen ermordet und ihnen vorher eine Orchidee auf den Bauch gezeichnet. Es braucht noch eine lange, langweile Weile, bis die völlig ahnungslose Polizei versteht, dass dies eine Mitteilung sein soll, und die Zeichnung veröffentlicht. Nun kann der Film mit noch 30 Minuten Laufzeit das Finale starten: FBI und Gangster jagen Cataleya, die am liebsten in Unterhemd und knappem Höschen herumballert, sodass die schweren Waffen glatt mehr verdecken.

„Columbiana" wurde ziemlich dreist auf den Effekt montiert: Erst eine deftige Action-Einlage, dann in der nächsten Sekunde ein wehmütiger Blick über die Riesenstadt Bogota mit entsprechend süßlicher Musik. Dabei gerät die Handlung immer wieder grob unglaubwürdig. Cataleyas Vater weiß, dass er bedroht ist und muss dann erst noch Koffer packen. Wichtiger ist, dass die Jungs aus dem Zielpublikum Hauptdarstellerin Zoe Saldana im hautengen Anzug anglotzen können, den Rest von Wahrscheinlichkeit bügelt laute Musik aus.

Wirklich ärgerlich ist allerdings die bedenkenlose Gewalt. Bei „Léon" war die Deformierung von Persönlichkeit, die für das Morden nötig ist, noch Thema - hier braucht es nur einen Schnitt und schon ist es passiert, als wenn Töten so einfach wäre. Ganz am Ende ist dann etwas besser und schmerzhafter als der ganze Rachekram: Johnny Cashs „Hurt" läuft über dem Abspann! So war das also gemeint!

11.9.11

Venedig 2011 Kommentar

Über Kunst kann man nicht abstimmen - Die Preise

Nein, sicher hat bei der entscheidenden Jurysitzung niemand mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Die Regisseure Darren Aronofsky und André Téchiné, der Musiker David Byrne und die Schauspielerin Alba Rohrwacher sind kultivierte Leute. Gerade deswegen kann man davon ausgehen, dass der Goldene Löwe für Sokurows „Faust" ein Kompromiss-Kandidat ist. Denn so läuft es in Jurys: Bei fünf Mitgliedern gibt es fünf absolute Favoriten. Auf keinen von denen können sich alle einigen. Dann kommen die zweiten und dritten Präferenzen ins Spiel bis irgendwann alle einen von denen akzeptieren. Obwohl eventuell kein einziger denkt, dass dies der beste Film sei! Nun ist der elegische und sehr eigenwillige „Faust" mitnichten ein schlechter Film. Doch es ist ein Sokurow mit zu vielen Worten und zu wenigen der einzigartig traumartigen Sokurow-Bilder seiner früheren Elegien. Jede andere Entscheidung wäre mutiger gewesen, aber so bekam nur Michael Fassbender den Hauptdarsteller -Trostpreis für „Shame", „Sturmhöhe" nur den Kamera-Trostpreis und der griechische „Alpis" den Drehbuch-Trostpreis. Kunst und Demokratie sind nicht unbedingt vereinbare Konzepte.

9.9.11

Venedig 2011 Die Favoriten

Hochkultur und Hochspannung

Venedig. Die Ruhe vor dem Sturm der Preisverleihung der „ 68. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica" heute Abend ist eine genüssliche. Träge liegt der von Urlaubern verlassene Lido in der Sonne, die letzten Kritiker lassen beim Preis-Rätseln einen reichen und dankenswerten Wettbewerb Revue passieren. Mit dem üblichen Äpfel und Birnen-Problem auch für die Jury um den ehemaligen Venedig-Sieger Darren Aronofsky („The Wrestler") und den Talking Heads-Kopf David Byrne.

Schnöder Schein ...
Statt der Goldenen Löwen jeweils für Film, Regie und Schauspiel sollte es welche für den besten Mainstream/Star-Film, für das künstlerische Autorenkino und für den besten mörderischen Genrefilm geben. In genau dieser wohlgeordneten Reihenfolge liefen die 22 Wettbewerbsfilme des sehr aufgeräumten Festivals ab. Programmatisch aufgeräumt, nicht von der bröckelnden Infrastruktur her. Die sorgte mit einem Fehlalarm für den bislang einzigen Aufreger. Abgesehen von den Stars, wobei vor allem Madonna mit ihrem Königs-Märchen „W.E." die Diskrepanz zwischen Schein und Substanz deutlich machte: Ihr Film erntete Häme. Nur absurde Aufgeregtheit und Gier nach Interviews bescherten ihm unverdiente Aufmerksamkeit.

... und die Kunst
Aber auch für diesen eitlen Firlefanz bot Venedig 2011 ein perfektes Festivalklima. Die Sonne strahlte mit dem Publikum um die Wette, ein etwas kräftigerer Wind diente nur kurz Andrea Arnolds „Sturmhöhe" als Kulisse. Von „Faust" bis zum „Gott des Gemetzels" wurde viel Theater gemacht - zu Film gemacht. Arnold bewies mit ihrer extrem sinnlichen, ja fast mit den Fingern greifbaren Bronté-Adaption, dass man Worte sehr gut in Bilder fassen kann. Film feierte hier ausgerechnet bei der Verfilmung eines literarischen Klassikers seine Emanzipation von den klassischen Künsten. Zu den weiteren Kunst-Favoriten gehört vor allem „Shame" (Schande) des britischen Künstlers und Turner-Preisträger Steve McQueen („Hunger"): Der verzweifelte Trip eines vereinsamten Sexsüchtigen hat etwas vom erbarmungslosen Sog in „Requiem for a Dream" des Regisseurs Darren Aronofsky. Und „Shame" hat Michael Fassbender als genialen Hauptdarsteller - der einzige klare Favorit in diesem Jahr. Selbst das Problem, dass jeder Film nur einen Hauptpreis bekommen darf, besteht hier nicht: Fassbender spielte auch Carl Gustav Jung in Cronenbergs „Eine gefährliche Methode". Christoph Waltz könnte in der Abteilung Hauptdarsteller nach seiner glänzenden Show in Polanskis „Gott des Gemetzels" vielleicht überraschen.

Fast sind sie schon vergessen, die Publikumsfilme der ersten von zehn Festivaltagen. Doch vor allem der Eröffnungsfilm, Clooneys politische Regiearbeit „Die Iden des März" sollte zu einigen Ehren kommen. Dazu wird sicherlich ein asiatischer Film ausgezeichnet - Venedig ist noch immer das Festival von Marco Müller, dem cineastischen Sinologen, dessen hochgeschlossene, edle Anzüge auch schon mal Maos Arbeiterhemden nachempfunden sind. Der italienische Film, der auch fast immer einen Trostpreis abbekommt, ist auf ein Niveau unter Meeresniveau abgesunken. Da ist es passend, wenn Emanuele Crialese sein Flüchtlingsdrama „Terraferma" mit einer Unterwasseraufnahme vor Lampedusa beginnt.

Die Gemetzel
Die letzten Wettbewerbsfilme gehörten in die Abteilung „Mord und Totschlag", verdienten sich aber reichlich Festival-Anerkennung: „Killer Joe" des Altmeister William Friedkin („French Connection") basiert auch auf einem Bühnenstück gleichen Namens von Tracy Letts. Matthew McConaughey spielt „Killer Joe" - nach „Der Mandant" erneut eine unsympathische Rolle als sadistischer Polizist, der im Nebenberuf mordet. Dies hätte eines der vielen White Trash-Gemetzel werden können, doch der Fargo-ähnliche Versuch einer grunddebilen Familie, sich der Mutter zu entledigen, um mit der Versicherungssumme Wettschulden und noch mehr Dosenbier zahlen zu können, führte Dimensionen des Bösen vor, die vor allem in einer äußerst unappetitlichen Szene an Lynchs „Blue Velvet" denken ließ. Man verschluckte sich am bitteren Lachen und musste noch lange an diesem Knochen kauen.

Hongkongs Regie-Legende Johnnie To baut in seinem „Life without principle" (Leben ohne Moral) Verbrechensgeschichten in die Panik einer der letzten Wirtschaftskrisen ein. Der Inspektor kann kaum etwas aufklären, wenn gierige Banken ihre Kleinanleger ausbeuten, die alten Gangster-Gangs der Straße als verarmte Witzfiguren ebenso hilflos sind wie die Finanzjongleure, die übrigens aus dem gleichen Clan stammen. Ein hervorragend erzählter, böser Kommentar zur Moral unserer Gesellschaften, der am Ende wenigstens zwei Figuren davonkommen lässt.

Unversehrt bleibt niemand in Ami Canaan Manns „Texas Killing Fields": Im nämlichen Sumpfgebiet fand man die Leichen von fast 60 Frauen. Zwei Cops, der sanfte Neuzugang Brian und der aggressive Texaner Mike, versuchen die Mörder zu finden und gleichzeitig den verwahrlosten Teenager Ann zu retten. Mit dabei ist als Mikes Ex-Frau übrigens Jessica Chastain („The Tree of Life"), die mit einem zweiten Venedig-Auftritt als „Wilde Salome" ihre Preis-Chance erhöht. Canaan Mann, Tochter von Michael Mann, schafft eine ungeheure Atmosphäre der Bedrohung und steigert die Spannung zum Zerreißen. Diese Spannung wird auch noch lange nach der Preisverleihung heute Abend in der Luft bleiben. „Texas Killing Fields" ist ab dem 24. November in den Niederlanden zu sehen.

7.9.11

Venedig 2011 FAUST aufs Auge

Venedig. Mit der sehr freien Goethe-Verfilmung „Faust" von Alexander Sokurow ist der Wettbewerb Venedigs endgültig am Kunst-Pol angekommen - auch ein Kunststück, 22 Filme dramaturgisch derart vom Entertainment zur Hochkultur aufzubauen! Während sich der Lido kongenial von einem leichten Schleier eingehüllt zeigte, sucht Professor Faust in nebulösen Bildern die Seele und findet, begleitet von vielen neuen Nebenfiguren, die Freiheit.

Von Murnau über "Jan Svankmajer's Faust" als Puppenspiel bis Fura del Baus' modernem „Faust 5.0" wurde das Theaterstück immer wieder verfilmt. Der Russe, oder genauer: Petersburger Alexander Sokurow integriert den Klassiker in sein eigenes ästhetisches Universum, macht ihn zum letzten Teil seiner 1999 begonnenen Tetralogie „Moloch Tier Sonne". Auf gut Deutsch gespielt, sucht Faust zwar nach der Seele des Menschen, braucht aber vor allem Geld. Sein Vater, ein Quacksalber, will dem Denker nichts geben, beim Pfandleiher trifft der verarmte Forscher den Teufel. Sehr frei nach Goethe geht es ins Wirtshaus, danach wird Gretchen verführt. Verse gibt es immer nur wenn ein Stückchen Goethe zitiert wird. Dafür einen Haufen zusätzlicher Figuren, unter anderem Hanna Schygulla als Lustweib. Als Wirt tritt Lars Rudolph auf, der vor wenigen Monaten noch ein Konzert in Aachen gab. Sokurows Bilder sind wie oft bei ihm farblich entsättigt und weichgezeichnet. Die künstlich flachen Räume wirken wie über einen verzerrenden Spiegel aufgenommen. Das ist kein neuer Stoff für Literaturkurse, diese Variante wirkt für Fans eines popmodernen „Goethe!" vorgestrig. Altmodisches Kunstkino könnte man schimpfen, aber Kunst in perfekter Form. Und dann gibt es noch das ungewöhnliche Ende, in dem Faust seinen Mephisto namens Maurice Müller in einer Landschaft aus Lava und Geysiren steinigt, um in eisigen Höhen die Luft der Freiheit zu schmecken. Die Seele ist zwar weg, aber: „Natur und Geist, mehr braucht man nicht, um auf freiem Grund ein freies Volk zu erschaffen." Man darf sich Faust als glücklichen Menschen vorstellen!

Wir sind Papst-Verfilmer
Fast an Körperverletzung grenzte „Die Herde des Herrn" von Romuald Karmakar in der Sektion „Orizzonti": Extrem kunstfrei verfolgt der Dokumentarfilmer anlässlich der Wahl von Kardinal Ratzinger zum Papst das rasch aufflammende touristische Treiben in dessen Geburtsort Marktl am Inn und die Pilger auf dem Petersplatz in Rom. Freche Geschäftstüchtigkeit mit Benedikt-Torten und -Tees wird ebenso zur Schau gestellt wie sehr naive Religiosität. Statt Entwicklung gibt es nur mehr vom gleichen ungekonnt wirkenden Rumgefilme. Dass dieses Unding dann noch sechs Jahre bis zur Fertigstellung brauchte, ist unglaublich wie eine Marienerscheinung.

Erfreulich dagegen ein weiterer deutscher Starter, diesmal in der Sektion „Settimana della critica": „Totem", das Spielfilmdebüt von Jessica Krummacher, wurde als Low Budget mit weniger als 30.000 Euro Barmittel in Bochum realisiert. Rätselhaft sind darin Auftauchen und Handeln der jungen Fiona, die als Haushaltshilfe der Familie Bauer alles (mit-) macht. Die nicht richtig funktionierende Familie erhofft sich eine Veränderung, doch die Selbstaufgabe Fionas hat ein anderes Ziel. Ein gelungener Abschlussfilm mit reizvoll verschrobenem Hauskonzert der Psyche, der Hoffnung macht, dass Venedig endlich aufhört, alles von Karmakar zu akzeptieren.

Venedig 2011 Wuthering Hights, Cafe de Flore, Exchange

Das Kino brennt

Venedig. Nach dem großen Kino der Stars konzentriert sich die „ 68. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica" auf die Kunst, die ja auch im Namen des ältesten Filmfestivals steckt. Die wichtigsten Gäste sind abgereist, doch das Feuerwerk der Ereignisse im wahrscheinlich letzten Jahr des Festivaldirektors Marco Müller geht weiter - auch mit ungeplanten Aufregern. Venedig wird in diesem Jahr seinem Ruf als traditionelles Pannenfestival wieder einmal gerecht: Die Vorstellung des Überraschungsfilms - eine Marotte Müllers - entwickelte sich zur Überraschungsshow. Nicht wegen des Films - mit der ziellos scheinenden Suche nach einem Mörder bei „People Mountain People Sea" von Cai Shangjun steckte wie üblich bei ein Asiate in der Überraschungstüte. Aber mitten in der Vorstellung rannten die Menschen aus dem Saal, weil sie ein Feuer rochen. Das Festival unterbrach den Film und eine eher komödiantische Suche nach dem Brandherd begann, während unpassende Tonbandansagen für noch mehr Kopfschütteln sorgten. Der „Sala Darsena",ein Freiluftauditorium, das provisorisch überdacht wurde, soll zum nächsten Festival renoviert werden.

Leidtragender war der chinesische Regisseur Cai Shangjun, dessen auch sozialkritischer Film schon in der ersten Vorstellung in einem anderen Saal unterbrochen werden musste, weil die Untertitel nicht zu sehen waren. Bei der Wiederholung fiel dann zur Abwechslung der Ton aus. Eine Überraschung also nur insofern, dass noch nicht der übliche Protest der chinesischen Regierung gegen unliebsame Werke eingegangen ist. Oder steckt deren Geheimdienst dahinter? Man müsste Le Carre fragen. Ansonsten zeigt sich die Filmkunst weniger unterhaltsam, aber abwechslungsreich mit einem Klassiker aus England, einem Superhit aus Kanada und einem israelischen Kafka.

Stürmisches Naturdrama
Andrea Arnold, von der man nach den gefeierten, sehr modernen Vorgängern „Red Road" und „Fishtank" kein Historiendrama erwartete, verfilmte „Sturmhöhe" (Originaltitel: Wuthering Heights) von Emily Brontë (1818–1848). Die dramatischen Familienränke über drei Generationen erzählt sie verknappt. So bleibt mehr Zeit für reiche Naturpoetik. Es wimmelt nur so von Ästchen, Tautropfen, Käfern und anderem Getier auf der Leinwand. Die wilde Landschaft, in der sich die noch freie Seelenverwandtschaft vom Findelkind Heathcliff und der hier in den Hügeln heimischen Catherine ausbreiten kann, entwickelt einen rauschhaften Sog auch beim Zusehen. Inhaltlich setzt Arnold einen Akzent, in dem sie den von Catherines Bruder erniedrigten und später rachsüchtigen Heathcliff, zu einem Schwarzen macht, der als „Nigger" beleidigt und wie ein Tier behandelt wird. Eine interessante Klassikerverfilmung.

Paris mit Vanessa Paradis
Der Kanadier Jean-Marc Vallée legte mit „Café de Flore" den bislang besten Film des Festivals auf - leider nicht im Wettbewerb. Wie schon im Vorgänger „C.R.A.Z.Y." dreht sich wieder alles um Schallplatten, Lieblingslieder und die Melodie der ersten großen Liebe. Ein international erfolgreicher, aber durch Alkoholismus gefährdeter DJ steht mit seinen zwei Kindern zwischen der neuen und der geschiedenen Frau. Parallel dazu zieht Vanessa Paradis, die Partnerin von Johnny Depp, in Paris ihren mongoloiden Sohn groß, der immer wieder den Song „Café de Flore" hören will. Die Verbindung der beiden Ebenen ist ebenso atemberaubend wie die Musiken und die ganz großen Gefühle in diesem filmischen Hit.

Kafka in Tel Aviv
Nicht ganz so einhellig war die Begeisterung für denn israelischen-deutschen Wettbewerbsbeitrag „The Exchange", der von der Kölner Pandora-Film koproduziert und teilweise in Hanau gedreht wurde. Die Verwandlung eines stillen Wissenschaftlers, der zufällig aus seiner Routine tritt, in einen Sonderling, der fast unsichtbar neben der Gesellschaft lebt, wirkt stellenweise wie eine Mischung aus Kafka, Loriot und auch Kishon. Eran Kolirin („Die Band von Nebenan") zeigt das nicht besonders flott oder prickelnd, aber das Abseitige hat durchaus seinen Reiz und passt in diesen Wettbewerb. Der Pandora Film-Verleih will „The Exchange" ins Kino bringen.

6.9.11

Tournée

Frankreich, BRD 2010 (Tournée) Regie: Mathieu Amalric mit Mathieu Amalric, Miranda Colclasure, Suzanne Ramsey, Linda Marraccini, Julie Ann Muz, Angela De Lorenzo 115 Min. FSK ab 12

Die Show, die hier auf Tour geht, nennt sich „Burlesque" und die Damen in der Hauptrolle erklären es mit „was eigenes" und „für Frauen". Es ist eine Strip-Show, eine freche, besonders anzügliches, definitiv politische, die der ehemalige TV-Produzent Joachim (Mathieu Amalric) nach Europa bringt. Die Tour verläuft durch die Hafenstädte und auch sonst am Rande von Paris, um das man einen weiten Bogen macht. Denn dort hat Joachim Schulden und viele Feinde hinterlassen. Sowie zwei Kinder. Joachim, eine Figur, die Liebenswertes und Unsympathisches vereint, ist gleichzeitig Manager und Kindermädchen. Er achtet stets darauf, dass die schrillen Ladies irgendwann mal ins Bett gehen, als Nachtfläschchen gibt es meist Champagner. Sein Gesicht ist auf einmalige Weise zerrissen, um den Schnurrbart das falsche Lächeln, aber die Augen erzählen ehrlich von Niederlage, von Traurigkeit, von Verzweiflung.

So ist sie nicht nur wegen der atemberaubend wilden Frauen, die sich selbst spielen, sehr lebendig, diese teils märchenhafte Geschichte eines verlorenen Mannes, der bei seinen Striptänzerinnen eine neue Familie findet. Mathieu Amalric führte bei „Tournée" das vierte Mal Regie, ist aber vor allem als Schauspieler bekannt. Bei „Die Taucherglocke und der Schmetterling" zuletzt den gelähmten Chefredakteur eine Modezeitung.

„Tournée" überzeugt durch Atmosphäre und die Aufnahmen der starken Show, man reist mit, feiert mit und bangt vor allem um Joachim mit. Märchenhaft wird die Reise vor allem am Ende, wenn die ungewöhnliche Truppe auf einer Insel in ein verlassenes Hotel einzieht. Dort erfüllt sich eine Liebe, die vorher nur in Anfeindungen, Kritik und Schmachten existieren durfte.

Freunde mit gewissen Vorzügen

USA 2011 (Friends with benefits) Regie: Will Gluck mit Justin Timberlake, Mila Kunis, Patricia Clarkson, Jenna Elfman 109 Min. FSK ab 12

Wer erinnert sich nicht an das geniale Türen-Versteckspiel von Jonathan Demme in „Das Schweigen der Lämmer"? Jodie Foster hat die Spur des Serienmörders entdeckt, das FBI eilt rasant zum Wohnort des Täters, steht rechtzeitig vor der Tür, um eine Frau zu retten ... doch es ist die falsche Tür. Die Parallel-Montage des Films hat uns reingelegt. Ähnlich raffiniert beginnt die Romantische Komödie „Freunde mit gewissen Vorzügen". Über Leichen geht hier keiner, doch es ist schon heftig, wie Beziehungen beendet werden. Gebannt verfolgen wir in der flotten Eingangssequenz (Schnitt: Tia Nolan), wie es den Publikumslieblingen Justin Timberlake und Mila Kunis ergeht. Doch wieder reingelegt: Die Partner sind jeweils ganz andere, abserviert werden sie aber trotzdem und haben erst mal von Beziehungen die Nase voll.

Danach darf der Film noch mal loslegen. Justin Timberlake kommt als erfolgreicher Web-Redakteur Dylan aus Los Angeles nur widerwillig nach New York. Die Headhunterin Jamie (Mila Kunis) will ihn unbedingt als Chef-Layouter für das Männermagazin GQ anwerben. Mit einer reizenden Mischung aus Charme und Tollpatschigkeit gibt sie dem eingefleischten Westküsten-Bewohner eine persönliche New York-Tour mit einem Flash-Dance-Mob als Höhepunkt. Hier sind wir längst von der Traumwelt derartiger Rom-Koms gefangen, Dylan bekommt den Job und ganz zufällig gehen die beiden noch mal zusammen aus. Um sich dabei über gar nicht romantische Probleme des Beziehungslebens auszutauschen. Wie schön wäre es doch, wenn man das Gute - sprich: den Sex - ohne all die Verbiegungen und Kompromisse haben könnte. Dass die beiden bald auf rein freundschaftlicher Basis in der Kiste landen, ist ebenso klar, wie die Probleme mit kurz nachher aufflammenden Gefühlen, die mehr wollen. Aber wie die beiden getrennt geschlechtlichen Kumpels zur Sache gehen, ist richtig komisch!

Und dazu gar nicht pubertär zotig - sensationell! Auf dem gleichen erwachsenen Niveau sind auch die intelligenten, witzige Dialoge. Selbst wenn diese recht eindeutig sind, bleibt es im Bild typisch Hollywood prüde. Nach dem Spaß kommt in diesem Genre immer der Kater, doch auch hier punktet der Film: Die Schwierigkeiten der beiden, sich aufeinander einzulassen sind nachvollziehbar, die Episode mit Dylans Familie und dem dementen Vater noch rührender. Timberlake und Kunis spielen gut und glaubwürdig. Er ist gar nicht Popstar, sondern richtig präsent auf der Leinwand. Als Zugabe gibt es Woody Harrelson in der Rolle eines völlig abgedrehten, schwulen Sportreporters - noch seltener zu finden als schwule Fußballer. Auf Jamies Seite darf eine reichlich wilde Mutter (Patricia Clarkson) mindestens zehn mögliche Väter einbringen, aber am Ende einmal das Richtige sagen. Dann gibt es noch mal einen Flash-Mob - statt Fleurop die Romantik unserer Zeit.

5.9.11

Venedig 2011 Shame, le Carré, NRW

Venedig. Nachdem die 68. Internationalen Filmfestspiele Venedigs in der ersten Hälfte mit großen Regisseuren, Stars für die bunten Seiten und täglich einem Knaller im Wettbewerbsprogramm verwöhnten, gesellten sich am Wochenende zu den bekannten Namen im Rennen um die Goldenen Löwen die ersten Festival-Favoriten. Michael Fassbender brilliert nach seiner Rolle des eher verklemmten Carl Gustav Jung in Cronenbergs „Gefährliche Methode" auch in Steve McQueens „Shame" (Schande) als sozial vereinsamter Sexsüchtiger. Das intensive Drama und sein genialer Hauptdarsteller sind heiße Kandidaten für die Hauptpreise, die am Samstag vergeben werden.

Michael Fassbender spielt den beruflich und bei den Frauen sehr erfolgreichen New Yorker Brandon. Ein gut aussehender, bestens bekleideter und sympathischer Mann. Der jede Beziehung verweigert, einen hohen Verschleiß an Prostituierten hat und sowohl die Festplatte als auch seine Schränke voller Pornos. Dieses derart geregelte Leben wird kompliziert, als sich seine Schwester (Carey Mulligan aus „Alles, was wir geben mussten") bei ihm einquartiert. Sissy ist ihm sehr ähnlich und ebenso einsam, nur gesteht sie sich diesen Scherz ein.

Fassbender, der in Heidelberg geborene und in Irland aufgewachsene Sohn einer irischen Mutter und eines deutschen Vaters, begeisterte schon in McQueens Erstling „Hunger" als hungerstreikender IRA-Kämpfer Bobby Sands. Er gilt nicht erst seit seinem Auftritt als Magneto in „X-Men. Erste Entscheidung" zur Zeit als eine der größten Leinwand-Sensationen.

Vereinsamte Individuen
Ein weiterer Geheimtipp der internationalen Regie-Szene und ein Favorit des Wettbewerb dreht sich ebenfalls um die Isolation des Individuums: „Alpis" des Griechen Yorgos Lanthimos („Dogtooth") zeigt ein Quartett unterschiedlicher Menschen, die sich Trauernden als Doubles der dahingegangen Lieben anbieten. Viele bizarre Situationen in dem zwischen Gangster-Geschichte und schwarzer Komödie angesiedelten Film führen zur Tragik einer Krankenschwester, die keine echte menschliche Bindung mehr kennt und völlig von ihren „Kunden" abhängig ist. Ein verstörender und fordernder Kandidat für die Löwen Venedigs.

In „Contagion", dem sehr ansteckenden Beitrag außer Konkurrenz von Steven Soderbergh, rafft eine neue Viren-Epidemie in ein paar Monaten 26 Millionen Menschen dahin. Deshalb startet der Regisseur von „Oceans 11" und „Traffic" auch gleich mit mindestens elf Stars, denn einige werden auf der Strecke bleiben. Kate Winslet darf dabei einen Schwächeanfall haben: „Contagion" ist schon ihr dritter Film dieses Jahr in Venedig! „16 Monate meines Lebens werden in 3 kurzen Tagen bewertet," meinte sie dazu. Soderbergh ist ein einzigartiger Könner und so erzählt sein Film ebenso rasant wie der Ausbruch des Virus. Dabei ist Soderberghs „Contagion" kaum merklich auch sehr politisch in dem er die ungerechte Verteilung der rettenden Impfdosen anprangert.

Ebenso überzeugend und auch im sorgfältigen Bild beeindruckend inszenierte der Schwede Tomas Alfredson die John le Carré-Verfilmung „Tinker, Taylor, Soldier, Spy". Gary Oldman, Colin Firth und John Hurt machen die Suche nach einem Spitzel in der Spitze des britischen Geheimdienstes mitten im Kalten Krieg zu einer schließlich doch sehr emotionalen Geschichte, in der nur gebrochene und vereinsamte Menschen zurückbleiben.

Deutsche Prominenz
Während für seine unsägliche Selbstbespiegelung „Wilde Salome" eine Goldene Uhr als „Glory to the Filmmaker Award" erhielt wurde der deutsche Produzent Martin Moszkowicz (Constantin Film) von der amerikanischen Fachzeitschrift Variety ausgezeichnet. So wiegt deutsche Prominenz die wenigen heimischen Filme auf: Doris Dörrie, Oliver Berben und Katja Eichinger waren zu Gast. Petra Müller, Geschäftsführerin der Filmstiftung NRW konnte Sönke Wortmann, Jessica Schwarz, Hannelore Elsner, Sandra Maischberger und NRW-Ministerin Angelica Schwall-Düren begrüßen. Während Produzent Marco Mehlitz gespannt auf eventuelle Auszeichnungen für den NRW-geförderten Cronenberg-Film „Eine gefährliche Methode" hofft, erlebt Jessica Krummacher die Premiere ihres im Ruhrgebiet gedrehten Debuts „Totem" erst morgen. Die „Mostra" bleibt spannend.

3.9.11

Venedig 2011 Soderberghs CONTAGION, Pacinos WILDE SALOME

Ansteckende Kunst

Venedig. Kunst kann es doch - die Welt verändern! Seit heute waschen sich in Venedig tatsächlich einige Herren der Filmbranche die Hände nach dem Toilettengang. Dazu brauchte es nur „Contagion", den sehr ansteckenden Wettbewerbs-Beitrag von Steven Soderbergh um eine neue Viren-Epidemie, die in ein paar Monaten 26 Millionen Menschen dahinrafft. Deshalb startet der Regisseur von „Oceans 11" und „Traffic" auch gleich mit mindestens elf Stars, denn einige werden auf der Strecke bleiben. Kate Winslet darf dabei einen Schwächeanfall haben: „Contagion" ist schon ihr dritter Film dieses Jahr in Venedig!

„16 Monate meines Lebens werden in 3 kurzen Tagen bewertet."
(Kate Winslet, die mit zwei großen Filmen und einer TV-Miniserie "Mildred Pierce" in Venedig ist)

Soderbergh ist ein einzigartiger Könner und so beginnt sein Film ebenso rasant wie der Ausbruch des Virus. Von Tag 2 an zeigt er die Opfer in Hongkong, Minnesota und Chicago. (Tag 1 und den ersten Patienten spart sich der Film bis zum bitteren, „schweinischen" Schlusspunkt auf.) Die Geschäftsreisende Beth (Gwyneth Paltrow) erwischt es zuerst, dann ihren Sohn. Der Ehemann (Matt Damon) scheint immun zu sein. Detektivisch versuchen Spezialisten, den Ursprung des extrem aggressiven Virus zu ergründen und ein Gegenmittel zu finden, während ein kapriziöser Blogger (Jude Law mit schiefem Zahn) Panik schürt und ein Naturheilmittel anpreist. WHO-Mitarbeiter erkranken (Kate Winslet), das öffentliche Leben stirbt, Chaos herrscht. Mehr als 130 Tage und zig Millionen Opfer später ist fast wieder alles gut, eine wissenschaftliche Heldentat führte zur richtigen Spur. Doch wer darf nun zuerst das rasch hergestellte Serum erhalten? In den USA gibt es eine Lotterie, in Asien entführt man West-Europäer (Marion Cotillard), um sein eigenes unwerteres Leben zu retten.

Hier ist Soderberghs „Contagion" kaum merklich sehr politisch geworden. Überhaupt ist sein Film vielleicht nicht so emotional-dramatisch wie „Outbreak", dafür viel umfassender, informativer, kurz: intelligenter. Und die Schutzanzüge sehen mittlerweile viel besser aus! Zwar verliert der Regie- und Kamera-Meister ein bis zwei Figuren - wortwörtlich, nicht im Euphemismus für das Sterben - und die WHO kommt etwas zu positiv weg, doch man gewinnt bei aller Spannung auch eine Menge Einsichten. Dazu bessert sich die Hygiene des Kinos schlagartig, weil man so schnell nicht wieder vergisst, wie einfach sich das Virus über Türklinken verbreitete.

Falsche Familien
Zu den großen Namen im Rennen um die Goldenen Löwen gesellte sich am Wochenende auch ein Außenseiter: „Alpis" des Griechen Yorgos Lanthimos („Dogtooth") zeigt ein Quartett unterschiedlicher Menschen, die sich Trauernden als Laienakteure der dahingegangen Lieben anbieten. Viele bizarre Situationen in dem zwischen Gangster-Geschichte und schwarzer Komödie angesiedelten Film führen zur Tragik einer Figur, die keine echte menschliche Bindung mehr kennt und völlig von ihren „Kunden" abhängig ist. Ein verstörender und fordernder Kandidat für Festivalpreise.

Al Pacino-Show
Reichlich Preise hat der gestandene Method Actor Pacino schon eingesackt, nun gibt ihm Venedig noch eine Goldene Uhr als „Glory to the Filmmaker Award" für seine Regie-Arbeiten mit. Schade, dass auch die dazu gestern präsentierte Dokumentation „Wilde Salome" nicht ohne die Egomanie des hervorragenden Darstellers auskommt. Im angeblichen Versuch, Oscar Wilde und sein Stück Salome zu verstehen, inszeniert sich Pacino als Herodes, als Filmregisseur, als Dokumentarist und sogar als verurteilter Wilde selbst: „Irgendjemand muss es ja tun!" (Stephen Fry hätte es sicher gerne noch mal und besser gemacht!) Das ist dann nicht mehr lustig sondern störend und nervig, wie schon bei „Al Pacino's Locking for Richard" (III). So wäre „Wilde Salome" ohne Pacino sicher besser, aber es gäbe ihn auch nicht ohne ihn. Nicht nur, weil der alte Selbstdarsteller in fast jedem Bild ist, er ist tatsächlich auch die treibende Kraft hinter diesem Projekt gewesen.

2.9.11

Venedig 2011 Cronenbergs ungefährliche Psychoanalysen-Analyse

Keiras Kiefernkrampf - Psycho ohne Spannung:

Venedig. Das Festival ist noch im Starrausch oder schon leicht verkatert. Zeit, sich Gedanken zu machen, mit Cronenbergs gepflegter Analyse der Psychoanalyse im Wettbewerb. Leider ist der in großen Teilen in Nordrhein-Westfalen gedrehte „Eine gefährliche Methode" nie wirklich gefährlich, die Fans des Horror-Cronenberg seien gewarnt. Schrecklich ist hier nur, wie Keira Knightley ihr Gesicht verzerrt, den Kiefer unnatürlich vorreckt, um die Hysterie der Sabina Spielrein zu verkörpern.

Die russische Jüdin Spielrein (Knightley) war in der Geschichte der Psychoanalyse Carl Gustav Jungs (Michael Fassbender) erste Patientin der vor hundert Jahren sensationell neuen Methode der Gesprächsanalyse. Jung im Jahre 1904 noch der talentierteste Schüler des bereits berühmten Sigmund Freud (Viggo Mortensen). In einer Schweizer Klinik erkennt Jung die Schläge von Sabinas Vater als Ursache ihrer Probleme, aber auch ihrer Lust. Der Familienvater und Wissenschaftler verleugnet lange die Anziehung seiner Patientin. Auch weil ihm nicht gefällt, dass Freud alles auf die Sexualität zurückführt. Doch es kommt unweigerlich zu einer SM-Affäre, die sich im Laufe der Jahre zu einem wissenschaftlichen Austausch mit der studierten Schülerin Spielrein wandelt. Parallel dazu bricht die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Freud und Jung.

„Eine gefährliche Methode" ist vielleicht zu sehr schönes Kopfkino, um die Herzen zu packen. So leidet der handwerklich hervorragende und nicht uninteressante Film an der gleichen Verwandlung von Lust in Kreativität, die auch Jung zur tragischen Gestalt macht. Das überrascht bei Cronenberg, der bei „Naked Lunch", „Die Unzertrennlichen" oder auch bei dem sehr psychoanalytischen „Spider" immer bewegende Bilder für extreme Seelenzustände fand. Diese für das Publikum un-gefährliche Methode, dieses Freud-volle, intellektuelle Spiel um Väter der Psychoanalyse bleibt gepflegt - bis auf Keiras ausrastenden Kiefer.

1.9.11

Venedig 2011 GOTT DES GEMETZELS / W.E.

Star-Waltzer

Venedig. König George (Clooney) ist abgetreten, ab heute beherrscht Queen Madonna den Catwalk namens Roter Teppich. Beim Venedig-Auftritt der Selbstvermarktungs-Vorgängerin von Lady Gaga tritt die Filmkunst in den Hintergrund. Die Sängerin, die sich zum zweiten Male als Regisseurin versucht, ist wie das meiste in ihrem Film „W.E." flirrender Glimmer, Dekoration. Ein substantieller Spaß hingegen „Der Gott des Gemetzels", der neue Film von Roman Polanski, in dem Christoph Waltz mit bekannten Hollywood-Größen spielt.

Nachdem der übel faschistische Wettbewerbsbeitrag „Warriors of the Rainbow: Seediq Bale" aus Taiwan wegen seiner vielen Massaker und Enthauptungen eigentlich „Gott des Gemetzels" heißen müsste, erwies sich Polanskis Film, der diesen Titel wunderbar ironisch verwendet, als herrliche Gesellschaftskomödie. Das Kammer-Quartett aus zwei New Yorker Elternpaaren, die zivilisiert die Prügelei ihrer Söhne klären wollen, war bei der ersten Vorstellung auf dem Lido ein sehr unterhaltsamer Lacherfolg, schon bevor unter Alkoholeinfluss die Masken fielen. Christopher Waltz spielt mit wenig feiner Ironie seiner aalglatten Anwaltsfigur tatsächlich etablierte Weltstars wie Jodie Foster, Kate Winslet und John C. Reilly an die fein dekorierte Wand (Produktions-Design: Dean Tavoularis).

Das zugrunde liegende Theaterstück von Yasmina Reza, das auch in Deutschland schon zu sehen war, lässt unterschiedliche Charaktere aufeinanderprallen und zurückgehaltene Wahrheiten entgleiten. Obwohl die Eltern des „Täters" (Winslet, Waltz) eigentlich schon aus der Tür raus sind, gibt es nach einem Kaffee noch Streit, Vorwürfe, Handy-Gemetzel und auch eine Kotz-Einlage von Kate Winslet. Ob wir tatsächlich alle Tiere oder Egoisten sind, und ob Männer sich auf den John Wayne-Typus reduzieren lassen, bleibt offen und diskutabel. Derweil macht diese überraschende Enthüllung wahrer Persönlichkeitszüge durchgehend viel Spaß. Der neue Polanski ist fast ein Woody Allen.

Falscher Schmuck
Madonna, was für ein Theater: Schon am Morgen war die erste Vorstellung von Madonnas Regiearbeit „W.E." hoffnungslos überlaufen. Am Ende der Vorstellung sah man jedoch wieder viele leere Sitze. Der Versuch, die „Romanze des Jahrhunderts" zwischen dem aus Liebe abtretenden König Edward VIII. und der bürgerlichen Amerikanerin Wallis Simpson (Wallis + Edward = W.E.) irgendwie „magisch" mit den Beziehungsproblemen einer reichen New Yorkerin von heute zu verbinden, misslingt unter großem Material-Aufwand. Madonna bleibt das „Material Girl" ihres Songs, wenn sie im Film Marken, Luxus und Juwelen ausstellt, aber nicht für die Figuren interessieren kann. Wie passend, dass der multiple talentierte Star, bei dem es trotz aller Beziehungen und Gastauftritte wieder nicht zu einem guten Film reicht, morgen während einer Gala einen Preis für weibliches Filmschaffen verleiht. Die Namen von Veranstalter und Sponsoren bleiben hier ausgeblendet, auch wenn „W.E." eher auf die (Selbst-) WErbe-Seiten als in die Kunst gehört.