"We need to talk about Kevin" hieß ein Wettbewerbsfilm über den unerziehbaren Jungen Kevin, der später Amokläufer wurde. Dass die „Kids" gar nicht „allright" sind, machten schon die Bemühungen der Kinderschutz-Polizisten in „Polisse" und auch die beiden „Kinderfilme" vom Wochenende klar. „Michael", das Spielfilmdebüt des 39-jährigen österreichischen Schauspielers Markus Schleinzer, hat bereits im Titel ein Problem. „Le gamin au vélo" der zweifachen Cannes-Sieger Jean-Pierre und Luc Dardenne („Rosetta", „L'enfant") aus Lüttich, ist vielleicht nicht der erschütterndste Dardenne, dieser eigene Maßstab ist allerdings auch extrem hoch.
„Michael" ist die Geschichte eines Pädophilen, der einen zehnjährigen Jungen im Keller gefangen hält. Abgesehen von dieser problematischen Perspektive erschrickt beim nachträglichen Nachdenken, wie wenig der sehr nüchterne Film erschreckt hat. Schwer erträgliche Szenen bleiben nicht aus, auch wenn die säuberlich in der Kladde notierten Vergewaltigungen nicht gezeigt werden. Die Banalität des Kinderschändens eines Versicherungs-Kaufmannes zeigt sich als Tristesse eines unreifen Menschen, der missbraucht wie er Weihnachten feiert oder fernsieht. Am Ende entledigt sich der Film seines Täters und es bleibt nur Bangen um die Rettung des Kindes.
Regisseur Schleinzer hat bewusst keine reale Geschichte verarbeitet und „wollte den Stoff aus den Griff des Boulevard befreien". Er hat „eine unverstellte Annäherung an dieses Thema gesucht", denn „eine Gesellschaft kann nur so weit entwickelt sein, wie sie auch in der Lage ist, sich mit ihren Tätern auseinanderzusetzen". Hört sich besser an, als der Film ist. Der erklärt sehr wenig. Das machen auch andere nicht, nicht Seidl oder Haneke, um mal in Österreich zu bleiben. Doch die berührend, erschüttern und bewegen (auch Gedanken) mit ihren künstlerischen Mitteln. An denen fehlt es Schleinzer. Je länger man über „Michael" nachdenkt, desto lieber möchte man ihn in die Tonne treten. Nicht weil er zu schwierig oder unbequem ist. Er denkt zu wenig nach. In der Tonne befindet sich nebenbei auch schon der bislang schwächste und vor allem ästhetisch belangloseste Film des Wettbewerbs, der israelische „Hearat Shulayim" von Joseph Cedar, der in Kishon-Komödien-Manier von dem Konflikt zwischen Vater und Sohn, zwischen ernster und populärer Wissenschaft erzählen will.
Zum Glück ist auf die Dardennes Verlass! „Le gamin au vélo" erzählt wieder eine packende Geschichte von echten Menschen, gedreht in und um Lüttich, mit authentischen Schauplätzen, vielen Laien und nur einer Handvoll Profi-Schauspieler. Der „Junge auf dem Fahrrad" des Titels ist seit einem Monat im Heim und verhält sich rabiat, weil er seinen Vater nicht erreichen kann. Zufällig klammert Cyril sich bei einem seiner Fluchten an die Friseurin Samantha, die ihn daraufhin nicht mehr loslässt und seine Pflegemutter werden will. Nur sein Rad kann ihn aus seinem Versteck locken, Samantha besorgt es ihm und zwingt auch den Vater seinem Kind die Wahrheit zu sagen: Er will ihn nicht mehr großziehen und sehen. Ein jugendlicher Krimineller nutzt die Verzweiflung aus und verführt den Jungen zu einem Verbrechen.
Klar, direkt, glaubhaft, gut. So sind die Filme der Dardennes. Dieser ist etwas hoffnungsvoller, mit Absicht. Jean-Pierre Dardenne sagte, sie hätten erstmals im Sommer gedreht, das würde sich zeigen. Ob es für die dritte Palme reicht, ist offen. Mitfahren und miterleben sollte man auf jeden Fall beim „Gamin au veló".