12.5.11

Cannes 2011 Heftige Frauen-Power im Wettbewerb


Cannes. Zwischendurch blitzt sie als Sonnenstrahl oder als Krisenbericht herein, die echte Welt draußen vor den 64. Filmfestspielen von Cannes: Die Busfahrer streiken, was umgehend zur Einkommenssteigerung für die Taxifahrer am Flughafen führte. Über das geschickt zur Festivalzeit getimte Chaos meldet die Außenwelt verzweifelt in die Kinosäle „Hallo, ich bin auch noch da!" Und dann gab es den hoch verehrten Regisseur und Linken Robert Guédiguian (mit „Les neiges du Kilimandjaro" in „Un Certain Regard"), der in Woody Allens „Midnight in Paris" das wahre Paris mit allen sozialen Facetten vermisste. Ansonsten keine Beschwerden zum feierlichen Auftakt. Der Wettbewerb legte sogleich mit so harter Kost los, dass man sich manchmal nach sonnenbestrahlten, übervollen Haltestellen ohne Bus sehnte.

 

Nackte Frauen beim Altherren-Festival

Aller Anfang ist schwer - auch im Wettbewerb von Cannes mit „Sleeping Beauty". Ein Erstlingswerk von Julia Leigh. Von einer Frau im Kreise von "Meistern", die meist männlich und oft Altmeister sind. Der erste von vier Filmen einer Regisseurin unter 20 Teilnehmern, um diesen Hohn eines extrem patriarchalen Festivals noch einmal zu betonen, sah allerdings lange Zeit wie ein Altherren-Film aus - mit verklemmt viel nackter Frauenhaut. Man muss bei der jungen Frau Lucy, die sich - nur vielleicht wegen des Geldes - bizarren Ritualen hingibt, an Buñuel denken, an dieses obskure Objekt der Begierde. Ja, der Buñuel, der im Woody Allen-Film auftritt! So alt scheint dieser Erstling einer 1970 geborenen Australierin, die demnächst ihren eigenen Roman „The Hunter" verfilmt, schon zu sein. Aber da gibt es auch die schwer einzuordnende junge Frau. Was treibt Lucy an? Sie weiß nicht, was mit ihr passiert, während sie schläft und in den Händen reicher, meist impotenter Männer ist, und doch verändert es sie. Heftig packend und nachhaltig wirkend, dieser Auftakt.

 

Mutter eines Amokläufers

Diese Tour de Force machte Emily Browning (Baby Doll aus „Sucker Punch") für ein paar Stunden zur ersten Favoritin für den Darstellerpreis, bis Tilda Swinton ihr Mörder-Mutter-Martyrium in „We need to talk about Kevin" durchzog. Eingetaucht in zahllose Rotvarianten von der südländischen Tomatenernten-Orgie, bei der Swinton schon gekreuzigt erscheint, bis zu Tomatensuppen-Regalen und der von Nachbarn vollgeschmierten Hausfront. Eva hat etwas Böses getan - einen Amokläufer großgezogen. In einem manchmal euphorisierenden manchmal anstrengenden Fluss der Rot-Töne, Erinnerungen und Leidensmomente rekapituliert Eva von der Zeugung, über Zweifel in Schwangerschaft und auch sonst ihre durch ein veritables Monster immer überforderte Mutterschaft. Waren es Ballerspiele oder die Wasserpistole, mit der das Kind Kevin ihren privaten Raum voller Karten zerstörte, die zum Amoklauf führten? Genau einmal darf man dabei lachen, als zwei Mormonen auf die Frage von Evas Verbleib im Jenseits die überzeugte Antwort „Im ewigen Fegefeuer" erhalten. Das wird wohl dem Verhältnis von Drama und Komödie im Wettbewerb von Cannes entsprechen, doch die 1969 in Glasgow geborene Lynne Ramsay legt ihr in vieler Hinsicht packendes und Fragen aufwerfende Drama erschlagend an. Inhaltlich und formal.

 

Leichter Abschied

Eine andere Perspektive eines bekannten Amoklaufs zeigte einst der Amerikaner Gus van Sant und erhielt für „Elephant" 2003 eine Goldene Palme. Nun berührte er mit einer fast zarten Annäherung zweier junger Menschen an den Tod in „Restless": Enoch kann den Unfall-Tod seiner Eltern nicht verkraften und verliebt sich ausgerechnet in Anna, die wegen ihrer Hirn-Tumors nur noch wenige Monate zu leben hat. Verspielt überspielt der nur Schwarz tragende Junge seinen Schmerz. Und spielt Schiffe-Versenken mit dem Geist eines Kamikaze-Piloten! Verspielt, leicht, manchmal magisch und durch tolle Independent-Songs unterlegt, meistert van Sant das ernste Thema. Die häufigste Stellungnahme nach diesem Eröffnungsfilm der Nebenreihe „Un Certain Regard" war das Wegwischen von Tränchen. Die letzten Worte Enochs sind Bilder der Erinnerung - meisterlich, wie van Sant genau damit berührt.