5.2.12

Der Junge mit dem Fahrrad

Belgien/Frankreich/Italien, 2011 (Le gamin au vélo) Regie: Jean-Pierre Dardenne , Luc Dardenne mit Thomas Doret, Cécile de France, Jérémie Renier, Fabrizio Rongione 87 Min.

In „Fahrraddiebe", dem Klassiker des Neo-Realismus, treibt die Suche nach einem gestohlenen Rad das soziale Drama an. Viele Jahrzehnte später sucht „Der Junge mit dem Fahrrad" seinen überlebenswichtigen Drahtesel, doch auch wenn die Brüder Dardenne immer ein Auge für die soziale Situation ihrer Heimat Lüttich haben, ist das Rad diesmal Hilfsmittel auf dem bewegenden Weg des Jungen in seine emotionale Freiheit.

Der offenste und luftigste Film der wallonischen Cannes-Seriensieger erzählt vom zwölfjährigen Cyril (Thomas Doret), der immer wieder aus dem Heim abhaut, um seinen Vater zu suchen. Doch die alte Wohnung ist leer und Cyrils Fahrrad hat jetzt ein anderer. Der Junge wird immer rabiater und man befürchtet schon die unabwendbare Abwärtsspirale eines tragischen Sozialdramas, da klammert sich Cyril zufällig bei einem seiner Fluchten an die Friseurin Samantha (Cécile de France), die ihn daraufhin nicht mehr loslässt und seine Pflegemutter werden will. Sie geht souverän mit cholerischen Anfällen um und versteht auch schnell, dass nur das Fahrrad Cyril aus seinem Versteck, aus seiner emotionalen Blockade locken kann. Samantha treibt es auf und zwingt auch den Vater Guy (Jérémie Renier, der Hauptdarsteller aus „L'enfant") seinem Kind die Wahrheit zu sagen: Er will ihn nicht mehr großziehen und sehen. Doch dann nutzt ein jugendlicher Krimineller Cyrils Verzweiflung aus und verführt den Jungen zu einem Verbrechen.

„Der Junge mit dem Fahrrad" erzählt wieder eine packende Geschichte von echten Menschen, gedreht in und um Lüttich, mit authentischen Schauplätzen, vielen Laien und nur einer Handvoll Profi-Schauspieler. Klar, direkt, glaubhaft, gut - so ist auch dieser Filme der Dardennes. Er ist etwas hoffnungsvoller als die Cannes-Sieger „Rosetta" und „L'enfant" und gradliniger als der Vorgänger „Lornas Schweigen". Mit Absicht. Jean-Pierre Dardenne sagte, sie hätten erstmals im Sommer gedreht, das würde sich zeigen. Vor allem bei den Ausflügen entlang der Maas, beim Picknick mit Samantha, das einen strahlenden Jungen zeigt. Der Star Cécile de France nimmt sich in dieser Rolle gekonnt zurück, auch wenn die Figur Samanthas fast märchenhaft funktioniert, ist die Friseuse doch überzeugend bodenständig und resolut. Doch weder Inszenierung noch Handlungsverlauf folgenden den ausgetretenen Radwegen ähnlich klingender Geschichten. Vor allem im Finale legen die Brüder Dardenne eine moralische Volte hin, die lange nachdenken lässt.

Das neue Kunststück der Brüder Dardenne, mit inszenatorischer Reduktion die Fülle des Lebens ehrlicher einzufangen als die meisten anderen Filmemacher, gewann auf den Filmfestspielen in Cannes den Großen Preis der Jury und wurde soeben mit dem Europäischen Filmpreis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. „Der Junge mit dem Fahrrad" ist das Mitfahren unbedingt wert.