Erschütternder Schlusspunkt: Roma-Drama im Wettbewerb
Berlin. Die ersten Resümees waren schon geschrieben und versendet, da zeigte ein ungarischer Beitrag mit erschütternder Gewalt, was hinter dem Schlagwort eines politischen Festivals eigentlich stecken kann: Bence Fliegauf folgt in „Csak a szél" (Nur der Wind) einer Roma-Familie einen Tag lang in einem kleinen Ort Ungarns. Vom Aufstehen der Mutter in einer dunklen Hütte ohne Strom, über ihren Weg zur Arbeit, die darin besteht, den Dreck anderer wegzumachen, bis zum Schlafengehen wieder im Dunkeln. Die Tochter geht mit immer eingezogenem Kopf zur Schule, muss sich als Diebin verdächtigen lassen und hat ein paar schöne Stunden am See. Der jüngere Sohn streunt herum, untersucht die abgefackelten Häuschen der Nachbarschaft, wo schon fünf Roma-Familien brutal erschossen wurden. Die Polizisten, die er belauscht, finden das nicht gut, man solle nur die faulen Roma umbringen! Am Abend, als die Familie im gemeinsamen Bett liegt, hören sie ein Geräusch. „Nur der Wind", meint die Mutter...
Nach einer tatsächlich ereigneten Mordserie gestaltete Fliegauf seinen atemberaubenden und beunruhigenden Film mit einer Handkamera, die ihren Figuren wie die Angst dicht folgt. Der Ungar realisierte bisher noch unter dem Vornamen Benedek das Meisterwerk „Womb" (2010) mit Eva Green und den fast experimentellen „Tejút" (Milky Way, 2007).
Mäßiger Wettbewerb - wenig Hollywood, kaum 3D
Mit noch einem offenen Film unter den 18 Konkurrenten um die Edel-Bären zeigt sich der Wettbewerb der 62. Berlinale als einer mit wenigen Höhepunkten. Wieder führte die Oscar-Dramaturgie dazu, dass die großen Majors nichts für Berlin übrig hatten. (Alles Gute musste bis Jahresschluss 2011 starten, um noch bei den Oscars mitzumachen.) So waren nur Soderberghs Edel-Action „Haywire" und „Extrem laut und unglaublich nah" außer Konkurrenz dabei. Billy Bob Thorntons in den Südstaaten angesiedelter Antikriegs-Film „Jayne Mansfield's Car" entstand kurioserweise mit russischem Geld. Die weitgehende Abwesenheit von Hollywood-Produktionen wurde vom Star-Rauschen im Blätterwald durch Angelina Jolie aufgefangen und war auch filmisch zu verschmerzen. Ebenso, dass mit Tsui Harks „Flying Sword at Dragon Gate" nur ein 3D-Film im Hauptprogramm lief. Das asiatische Kino, seit vielen Jahren Trendsetter und Quell hervorragender Filme, wurde durch die Volksrepublik China mit einem staatstragenden Kostümstück („The Flowers of War") und einem nur guten historischen Epos („White Deer Plain") unter Wert vertreten. Immerhin drückt sich das reiche Schaffen dieses Kontinents in der Spannweite vom eigenen Berlinale-Zögling in Form des Indonesiers Edwin („Postcards from the Zoo") bis zum internationalen Wettbewerbs-Star, dem Philippino Mendoza („Captive") aus.
Bei den drei deutschen Beiträgen waren sich bis zu Volkesmeinung im Bus M41 zum Potsdamer Platz alle einig: Petzold („Barbara") weit vor Schmid („Was bleibt") und dann Glasner („Gnade"). „Barbara" mit einer grandiosen Nina Hoss als in der DDR gefangene und schikanierte Ärztin ist weiterhin heißer Kandidat auf den Goldenen Bären. Selbst wenn es nur ein Trost-Bär für Nina Hoss würde, wäre es schade für einen mal zärtlichen Petzold-Film, der ohne Wenn und Aber perfekt ist. Die deutsch-portugiesische Produktion „Tabu" über die letzten Tage einiger Kolonisten muss im Kreis der Favoriten mit der Vorsilbe „Geheim-„ leben.
Nahaufnahme Anton Corbijn
Die Jury, unter anderem mit Präsident Mike Leigh, den Schauspielerinnen Barbara Sukowa und Charlotte Gainsbourg, den Regisseuren Francois Ozon und Asgar Farahdi sowie dem US-Star Jake Gyllenhaal besetzt, wird keine leichte Entscheidung haben, genügend Preisträger zu finden. Wie immer sind diese Sitzungen streng geheim, nichts dringt aus dem Innersten an die Öffentlichkeit, auch im Nachhinein nicht - meistens. Wie es allerdings im Inneren eines der Jury-Mitglieder aussieht, das zeigte die Niederländerin Klaartje Quirijns in ihrer wunderbaren Dokumentation „Anton Corbijn Inside Out", die als Berlinale Special lief. Wir dürfen den berühmten Fotografen von bekannten Musikern wie U2 oder Johnny Cash bei seiner Arbeit, an Orten seiner Kindheit, in der Familie und vor allem beim Sinnieren beobachten. Dass ist um so bemerkenswerter, weil der Sohn eines protestantischen Priesters sich selbst als verschlossen beschreibt und unfähig zu tieferen menschlichen Beziehungen. In einem besonders offenen Moment gesteht Corbijn, er glaubte immer, dass er als Mensch „nicht gut genug sei", deshalb wollte er als Künstler gut sein. Bis der Workaholic nach den Premieren seines zweiten Spielfilms, „The American" mit George Clooney, einen Zusammenbruch erlebt. Ein Filmwunder, das auch überlegen lässt, ob derartiges nicht öfter den Wettbewerb bereichern könnte. Man kann bei der Preisverleihung heute Abend besonders auf Corbijn achten, vielleicht dringt doch noch etwas von inneren (Jury-) Kämpfen nach draußen.