1.2.11
Poll
BRD, Österreich, Estland 2010 Regie: Chris Kraus mit Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller 133 Min. FSK ab 12
Das weiße Band in Estland: „Poll“ erzählt eindrucksvoll von einer endenden Kindheit im multikulturellen Baltikum kurz vor Ausbruch des „Großen Krieges“. Das große Panorama einer einzigartigen Region und einer morbiden Lebenshaltung entführt, fasziniert und erschreckt...
Präparierte Käfer und Leichen estischer Widerstandskämpfer. Eine an Dali erinnernde Herrenhaus-Konstruktion auf Stelzen am Ostseestrand, der Dialekt, den man ähnlich von Grass’ ostpreußischer „Blechtrommel“ kennt. Auf dieses Gut namens Poll kommt die 14-jährige Oda von Siering (Paula Beer) aus Berlin, ihre gerade verstorbene Mutter auf Eis im Gepäck. Oda versteht sich gut mit dem Vater Ebbo von Siering (eindrucksvoll: Edgar Selge), dem sympathischen, etwas seltsamen Wissenschaftler, der hierher neu und reich heiratete. Sie weiß allerdings noch nicht, dass dieser auch Gehirne von frisch erschossenen „Anarchisten“ präpariert. So nannte man damals die Esten, die sich gegen die Soldaten des Zaren wehrten. Eine ganze Truppe dieser Russen hat sich in den Schuppen vor dem Herrenhaus einquartiert. Es ist 1914, die Beziehungen zwischen den Deutschen im Baltikum und den Besatzern sind gut, die Offiziere kommen zur Hausmusik vorbei. Dass Odas Stiefbruder Paul nach einer sadistischen Bestrafung mit zerquetschten Fingern Akkordeon spielen muss, gehört zu den schauerlichen Momenten, über die sich immer wieder das sanfte Licht der Mittsommernacht legt.
Es ist eine paradiesische Sommerfrische, in der Oda landet. Vom Vater idealisiert auf Fotoplatten fixiert. Als das Mädchen jedoch einen schwer verletzten Anarchisten (Tambet Tuisk) versteckt und den bald „Schnaps“ genannten Poeten und Freiheitskämpferdirekt unter den Augen der Russen pflegt, wachsen die Spannungen in der Familie. Und im Gegensatz zur großen Politik lassen diese sich nicht ignorieren. Ebbo von Siering ringt verzweifelt um Anerkennung seiner rassistischen Forschung, seine herrschaftliche Frau Mila von Siering (Jeanette Hain) hat ein Verhältnis mit dem rauen Verwalter Mechmershausen (Richy Müller).
Der große und großartige Historienfilm „Poll“ schwelgt in seinen faszinierenden Kostümen, Kulissen und Landschaften. Dank bekannter, aber in diesem breiten Format überraschend guter Schauspieler fühlt man sich trotz andauernden Staunens schnell in diese Welt und diese Familie ein. Das Herzens-Projekt von Chris Kraus ist Zeitmaschinen-Kino mit großen Schauwerten, liefert aber auch einen scharfen Blick auf all die Verwerfungen, mit denen man sich für ein sattes Leben arrangierte. Kraus erzählt die wahre Geschichte seiner 1988 verstorbenen Großtante Oda Schaefer, einer heute gänzlich in Vergessenheit geratenen Autorin. Er entführt mit „Poll“ in eine vergangene Epoche, versetzt das gewaltige Panorama mit Momenten des Schreckens und der verdrängter Gewalt. Die Spinnfäden eines vergangenen Sommers ziehen neben allen anderen höchst gelungenen Elementen des Films auch noch Verbindungen zu heutigen Situationen multinationalen Zusammenlebens und übersehener (Staats-) Gewalt.