Wettbewerb verliert, Festival gewinnt
Berlin. „Die Party ist vorbei!", so hieß es im ersten Film des Wettbewerbs, dem Börsen-Drama „Margin Call" mit Kevin Spacey und Jeremy Irons. Dass die Party namens Berlinale 2011 zumindest im Wettbewerb nie starten würde, hätte sich damals - vor 10 Tagen, gefühlten 100 Filmen und einem halben Leben im Dunkeln der Kinos - niemand vorstellen können. Nun, kurz vor Verleihung der Goldenen Bären am heutigen Abend, muss man dies feststellen, aber vorstellen kann man sich noch nicht mehr: Die Filme hier haben keine Visionen gebracht, den Horizont nicht merklich erweitert, haben weder Unbekanntes näher gebracht, noch den Blick auf Bekanntes verändert. Mit wenigen Ausnahmen. Da die Berlinale aber viel mehr als nur der Wettbewerb ist, war die Stimmung trotzdem gut.
Ist irgendwem schon mal aufgefallen, dass der Berlinale-Bär blind ist? Knuddelig kommt der Teddy daher, tapsig auf den Hinterbeinen stehend, doch weder auf den Postern, noch auf Festivaltaschen, nirgendwo hat Meister Petz Augen. Vielleicht fällt es auch erst in diesem Jahr auf, da man sich fragt, wer diesen Wettbewerb zusammengestellt hat. Klar, schon anfangs wurde aufgezahlt, wer alles seinen Film nicht rechtzeitig fertig bekommt: Aki Kaurismäki, Lars van Trier, Terrence Malick werden in Cannes auflaufen. Dass es aber so schlimm werden würde, dass vermutete niemand. Harmlos und nett sind die höflichen Vokabeln. „Belanglos" beschreibt schon deutlicher, was den Wettbewerb ausmachte.
Mit ein paar Ausnahmen: Eindeutiger Favorit ist „Nader And Simin, A Separation" vom Iraner Asghar Farhadi. Simin möchte mit ihrem Ehemann Nader und ihrer Tochter Termeh den Iran verlassen, hat schon die Visa. Doch Nader will seinen an Alzheimer erkrankten Vater nicht zurücklassen und sagt die Reise ab. Simin zieht aus der ehelichen Wohnung aus und kehrt zu ihren Eltern zurück. Nader engagiert für die Betreuung des Vaters eine junge Frau in Geldnot. Als Nader eines Tages nach Hause kommt, findet er seinen Vater angebunden und fast leblos neben seinem Bett. Der wütende Sohn beschuldigt die Pflegerin auch noch des Diebstahls und will sie aus der Wohnung werfen. Die Frau weigert sich, zu gehen, es kommt zu einer - religiös unstatthaften Berührung. Später erfahren Nader und seine Frau von einer Fehlgeburt der entlassenen Pflegerin. Im Krankenhaus attackiert sie deren grober und unsympathischer Mann. Danach klagt er Nader an, eine Kettenreaktion von Schuld und Anschuldigungen beginnt....
Mit der Preisverleihung wird sich wahrscheinlich der Kreis zum ersten Berlinale-Tag schließen, an dem gegen die Verteilung iranischer Regisseure protestiert wurde. Wie sich der bescheidene Jafar Panahi entschieden hätte, hätte er Gelegenheit gehabt, seinen Juryplatz einzunehmen, werden wir nicht erfahren. Sein Landsmann Asghar Farhadi, der 2007 für „About Elly" einen silbernen Bären erhielt, hatte einst im Interview gesagt, er wolle unter allen Umständen weiterfilmen. Bis auf Sätze wie „Was falsch ist, ist falsch, egal wer es sagt", wirkt das meisterhafte Drama um Schuld und Sharia auch nicht politisch.
Andres Veiels „Wer wenn nicht wir" sorgte für die politische Perspektiven-Verlagerung. In Zukunft wird man ein oder zwei Personen auf den RAF-Fahndungspostern mit anderen Augen sehen. „Pina" hatte als einziger Film grandiose, umwerfende Bilder. Wim Wenders gab mit den 3D-Aufnahmen epochaler Tanzstücke der Truppen von Pina Bausch einen Vorgeschmack auf die Zukunft des Kinos. Was die so, nämlich „The Future", benannte Beziehungs-Spielerei des Multitalents Miranda July („Ich und Du und alle, die wir kennen", 2005) nicht bot. Zu leicht, nur leicht.
In den letzten Jahren des Berlinale-Chefs Moritz de Haldelns (1980-2001) galt der Wettbewerb als Straflager, dann brachte Dieter Kosslick mit noch schlechterem Englisch und einnehmender Persönlichkeit viel Sehenswertes nach Berlin. Er kann sich nun vor allem auf die deutschen Filme verlassen, die er seit seinem Start vor zehn Jahren gepflegt hat. Die einheimische Branche floriert, die Nachwuchs-Filme in „Perspektiven" gehören zu den am meisten überrannten. Auch beim „European Film Market" herrschte „optimistische Stimmung" durch „einen deutlichen Zuwachs an Teilnehmern und Filmen". Selbst hier beim - in den Martin Gropius-Bau ausgelagerten - knallharten Geschäft um regionale Rechte sorgte der iranische Wettbewerbsbeitrag „Nader And Simin" für gute Verkäufe. Mit 300.000 verkauften Eintrittskarten blieb das Festival im Soll. Vielleicht auch, weil es weniger Plätze für Akkreditierte und mehr im Verkauf gab. Madonna war ohne Film in Berlin, Daniel Brühl machte woanders seine eigene Tapas-Bar auf. Festival-Ekstase kam nur beim Koreanischen Superstar Lim Soo-jung auf, dem Hauptdarsteller des Langeweilers „Kommt Regen, kommt Sonnenschein". Dass Moritz Bleibtreu bei der Pressekonferenz zu „Mein bester Feind" fehlte, aber bei der Filmparty und beim NRW-Empfang war, erscheint symptomatisch: Der Tanz ums goldene Kalb, beziehungsweise um die Goldenen Bären, ist im vollen Gange. Der Wettbewerb als Anlass interessiert immer weniger.
Cineastisch lohnte es sich deshalb mehr als je zuvor, ins Forums-Programm zu schauen. Was hier läuft, kommt selten ins Kino; es gibt einem aber etwas, was man sonst selten im Kino bekommt. „Auf der Suche" (Regie: Jan Krüger) nach guten Filmen, gab es hier die meisten Entdeckungen: „Hi-So" (R: Aditya Assarat) mit dem thailändischen Superstar Ananda Everingham erzählte von der Globalisierung des eigenen Lebens - so leicht und doch berührend, wie es im Wettbewerb niemand vermochte.