6.8.10
Locarno - Im Alter von Ellen
Ellen Colmar, die französische Stewardess in deutschen Diensten, nervt schon beim Zusehen. Vom Düsseldorfer (dank Filmförderung der Filmstiftung NRW) und Frankfurter Flughäfen geht es in die Welt, die sie nie wirklich sieht. Die seltsame Beziehung mit einem mürrischen, unwilligen Österreicher zerbricht an dessen Untreue. Nachdem irgendwo in Afrika ein Gepard den Start verzögerte und nach zehn Jahren im Job steigt Ellen kurz vor einem „Lift off“ in Frankfurt aus, rennt panisch über die Startbahn und landet entlassen in einem Limbo der Flugbegleiter-Hotels: Von der betrunkenen Anmache in der Flughafen-Bar bis zu exzessiven Partys im haltlosen Schwebezustand bleibt Ellen ein Sicherheitsrisiko vor allem für sich selbst. Die „im Alter von Ellen“ ungewöhnliche Orientierungslosigkeit führt sie zu einer Gruppe von jungen Tierrechts-Aktivisten (mit Julia Hummer als dogmatische Anführerin im strengen Look), die ihre Nacktheit in einer Aktion gegen das Fleisch-Essen einsetzen. Doch wenn das Geflügel eines Tiertransportes „befreit“ wird, die Hühner auf Kies-Hügeln herumirren und sich der Fuchs freut, wenn weiße Mäuse orientierungslos auf der Straße überfahren werden, dann ist das kalt servierter Idealismus. Kann man/frau sich finden, wenn die eigenen Interessen zurückgestellt werden und man sich für etwas anderes einsetzt? Ellen sucht weiter, reist zu militanten Tierschützern in Afrika und verschwindet schließlich im Dunst. Vielleicht findet sie dort „Gorillas im Nebel“, aber das ist eher unwahrscheinlich, den die etablierten Kämpfer warnten: „Naivität ist gefährlich hier draußen!“
Pia Marais montiert anfangs das unruhige Leben der Ellen flott, versucht die beklemmende und dann panische Situation fühlbar zu machen: Ein betäubter Zustand in schnellen Schnitten, immer wieder gibt es gute Bilder für diese Verlorenheit. Der jüngere Karl, den sie später treffen wird, urteilt hart: „Du flatterst völlig verpeilt durch die Gegend.“ Auffällig trägt sie ein in Papier eingewickeltes Paket mit sich herum, eigentlich hat sie mehrere Päckchen zu tragen. Auch ihr Arzt will ihr dringend ein Untersuchungsergebnis mitteilen. Aber ihr Gepäck wird zunehmend leichter.
Pia Marais gelang ein streckenweise reizvoller, aber auch verkopfter Film. Wie in den „Unerzogenen“ geht es auch in Marais’ zweitem Spielfilm nebenbei um die Kinder der Hippies. Mit einer untergründig spürbaren Sehnsucht nach dieser gelebten Revolution verbindet sich eine skeptische Distanz zum gescheiterten 68er-Experiment. Auch für Ellen gibt es keine Antworten, die Hoffnung bleibt und statt sich abzufinden, sucht sie wieder. Das ist kein Happy End, aber es geht zumindest weiter.