6.8.10
Locarno 2010 - Jungbrunnen
Locarno. Nicht nur das Lachen bei der fast durchgängig laufen Retrospektive von den Komödien von Ernst Lubitsch hält jung, auch der neue Festivaldirektor Olivier Père scheint frische Akzente zu setzen: Die ersten beiden Piazza-Filme nähren die Hoffnung, dass in Zukunft weniger Gefälliges und auch mal Herausforderndes bei der 63. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals von Locarno (4.-14.8.) zu sehen sein wird.
Zur Eröffnung entführte Regisseur Benoit Jacquot mit seinem französisch-deutsch produzierten, historischen Drama „Au fond des bois“ die 5000 Zuschauer des Open Air-Kinos Piazza Grande in dunkle Bereiche der Leidenschaften. Wie und ob der unansehnliche Streuner Timothée die behütete Tochter des Arztes im Jahr 1865 tatsächlich „magnetisierte“ und dann missbrauchte, bleibt rätselhaft. Denn schließlich folgt sie ihm in die besinnungslose Wildheit, bis das gepflegte weiße Kleid die Farben der rauen Landschaft angenommen hat. Und irgendwann gewinnt das Opfer nicht nur sexuell die Oberhand. Vor allem durch die Hauptdarstellerin Isild Le Besco, die auch als Regisseurin einen Film in Locarno hat, gelang „Au fond des bois“ packend. Ob gotteslästerliche Passagen die Schuld am sintflutartigen Regen des nächsten Tag hatten, bleibt ungeklärt.
Auch „Kóngavegur“ der wilde, chaotische und anarchische Spaß von Valdís Oskarsdottir aus Island erfüllte die Sehnsucht eines Festivals nach immer neuen Eindrücken aus allen Ecken der Welt. Daniel Brühl darf Zaungast sein bei dieser mit viel Lust an Zerstörung in einem abgelegenen Trailer-Park situierten Komödie. Gestern Abend erhielt die Doku-Fiktion „Hugo Koblet – Pédaleur de charme“ des Regisseurs Daniel Von Aarburg ein Heimspiel, denn die Siege des später tragisch verunglückten Züricher Ausnahme-Radrennfahrers Hugo Koblet“ beim Giro d’Italia 1950 und bei der Tour de France 1951 haben für Schweizer immer noch den gleichen Rang wie das „Wunder von Bern“ für die Deutschen. Schon vor der Premiere tauchten immer mehr Hobby-Radfahrer mit den Retro-Trikots von Koblets Cilo-Team in der Stadt auf.
Der deutsche Film-Patriotismus konnte sich an der Weltpremiere von „Im Alter von Ellen“ im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden reiben: Ellen Colmar, die französische Stewardess in deutschen Diensten, nervt schon beim Zusehen. Vom Düsseldorfer (dank Filmförderung der Filmstiftung NRW) und Frankfurter Flughäfen geht es in die Welt, die sie nie wirklich sieht. Nach zehn Jahren im Job steigt die Flugbegleiterin Ellen kurz vor einem „Lift off“ in Frankfurt aus, rennt panisch über die Startbahn und landet entlassen im Limbo der Flugbegleiter-Hotels: Von der betrunkenen Anmache in der Flughafen-Bar bis zu exzessiven Partys im haltlosen Schwebezustand bleibt Ellen ein Sicherheitsrisiko vor allem für sich selbst. Die „im Alter von Ellen“ ungewöhnliche Orientierungslosigkeit führt sie zu einer Gruppe von jungen Tierrechts-Aktivisten. Doch wenn das Geflügel eines Tiertransportes „befreit“ wird, die Hühner auf Kies-Hügeln herumirren und sich der Fuchs freut, dann ist das kalt servierter Idealismus. Ellen sucht weiter, reist zu militanten Tierschützern in Afrika und verschwindet schließlich im Dunst. Vielleicht findet sie dort „Gorillas im Nebel“, aber das ist eher unwahrscheinlich, den die etablierten Kämpfer warnten: „Naivität ist gefährlich hier draußen!“ Pia Marais („Die Unerzogenen“) gelang ein streckenweise reizvoller, aber auch verkopfter Film. Für Ellen gibt es keine Antworten, aber es geht zumindest weiter.
Große Gefühle und heftige Rührung rief bislang ein akustischer Abschied hervor: Vor dem ersten Film des Festival hörte man zum letzten Male und deutlich angeschlagen „La Voce“, die Stimme Luigi Faloppas, des Ansagers der Locarno-Filme für über dreißig Jahre. Kurios, das gerade bei einem Filmfestival ein Unsichtbarer so geliebt wurde.