10.2.06

Berlinale: Slumming

Fremder Blick auf Vertrautes
 
"Slumming" im Wettbewerb
 
Von Günter H. Jekubzik
 
Berlin. Fremde Länder sehen - andere Menschen treffen. Dieses Motto gilt zynisch für viele reisefreudige Armeen dieser Welt. Aber auch einige Filmemacher betrifft es. Den Österreicher Michael Glawogger etwa, der mit "Slumming" gestern den deutschsprachigen Festivalreigen eröffnete.
 
Bei seinen Dokumentationen "Megacities" und "Working Mans Death" sah man betörende Bilder, mitreißende Montagen und berauschende Musikhintergründe zum Elend der Welt. Passt nicht so ganz, fanden einige. Und jetzt zeigt Glawogger im Berlinale-Wettbewerb so einen, der die fremdesten Plätze und Menschen sehen will, dem aber ein Herz fehlt. Jungstar August Diehl spielt diesen Sebastian, einen deutschen Piefke in Wien, der sich kaltherzig und arrogant damit vergnügt, mit Menschen zu spielen.
Sieben bis acht schmutzige Blind Dates am Tag, dann abends mit dem Freund Alex - besonders herunter gekommene Kneipen und Orte der Stadt besuchen. "Slumming" nennen sie das, oder Slum-Tourismus.
 
Irgendwann laden sie den Penner Franz (Paulus Manker) im Delierium in den Kofferraum und verfrachten ihn in eine tschechische Ortschaft, was ihm beim Aufwachen einen heftigen Schreck verursachen soll. Doch der verrückte Verrückte wird verblüffend gut mit Situation fertig, kehrt nach märchenhaften Begegnungen mit Gartenzwergen und einem Bambi geläutert zurück. Derweil verschlägt Sebastian eine (wahre?) unerfüllte Liebe zu einer gutherzigen Lehrerin nach Südost-Asien, in seinem weltweite Slumming trifft er auf das Elend, das Glawogger schon in seinen Doku-Filmen vorführte.
 
Doch mit "Slumming" gelang dem Grenzgänger zwischen Doku und Fiktion ein ausbalanciertes, durch interne Referenzen und Beziehungen höchst spannendes Kunststück mit starken Schauspielern. Das österreicher Multitalent Manker spielt das Wrack Franz frontal und wahnsinnig präsent direkt in die Kamera. Diehl steht der überhebliche, zynische Schnösel sehr gut. Ein Favorit, zumindest für Darsteller- und Nebenpreise.
 
In der Berlinale-Nebensektion Panorama sieht Ewan McGregor ("Star Wars") gut aus, aber das tut er selbst, wenn er mit dem Motorrad ganz real um die halbe Welt fährt. In Marc Forsters "Stay" übernimmt er als Psychiater Sam Foster den Kunststudenten Henry Letham (Ryan Gosling), der nach einem Unfall auf der Brooklyn Bridge sehr wirr wirkt. Das klassische Verhältnis Doktor-Patient löst sich bald ebenso auf wie die Sicherheit Sams. Dieses psychologische Verwirrspiel ist vor allem ästhetisch reizvoll, mit einer sorgfältigen Strukturierung des Raums, der Hintergründe bei Kunstausstellungen oder im Aquarium. Bis zur finalen Auflösung, bis zum schon zunehmend befürchteten Platzen einer inhaltlich recht leeren Blase. "Stay" hat den Überraschungseffekt a la "Sixth Sense", "Signs" oder "The Village" von M. Night Shyamalan. Das ist nicht mehr wirklich überraschend, aber immerhin ein schöner Augenkitzel zwischen schweren Festivalstoffen.