5.11.12

Winterdieb

Schweiz, Frankreich 2011 (L'enfant d'en haut | Sister) Regie: Ursula Meier mit Léa Seydoux, Kacey Mottet Klein, Martin Compston, Gillian Anderson 97 Min.

Falls sie letztlich das Gefühl hatten, im Schweiz-Urlaub ausgenommen zu werden, könnte das andere Gründe als den extrem starken Schweizer Franken haben: In Ursula Meiers starkem Berlinale-Film „Winterdieb" fährt der zwölfjährige Simon (Kacey Mottet Klein) jeden Tag mit dem Lift zur Bergstation, um eifrig und unverfroren Ski und Zubehör zu klauen. Seine Beute verkauft er im Tal des Ostschweizer Verbier-Wintersportgebietes den Kindern der Gegend. Trotz Hunderter, die durch seine Hand gehen, haust Simon mit der etwas älteren Louise (Léa Seydoux), die er auf Englisch „Sister" nennt, in einer kleinen, billigen Wohnung. Auch die „Schwester" sieht mit kurzem Rock billig aus. Mit Männern stellt sie sich dämlich an, was ein blaues Auge belegt, ansonsten auch. Simon, körperlich noch ein Hänfling, lässt derweil den Macker raushängen. Bei der Schwester und einer englischen Touristin (Gillian Anderson). Als sich ein etwas netterer Typ ernsthaft für Louise interessiert, lässt Simon die Bombe platzen: Sie ist meine Mutter!

Die verdrehte Familiensituation, in der ein frühreifes Kind den Versorger der immer ratlosen Mutter spielt, hat verdientermaßen bei der Berlinale 2012 einen Silberner Bären erhalten. „Winterdieb", der im Original „L'enfant d'en haut" (Der Junge von oben) und später auch mal „Sister" hieß, klingt nicht nur wie „L'enfant" (Das Kind) der Dardennes. Simon ist tatsächlich eine Schweizer Variante des Lütticher Sozialfalles „Rosetta": Irgendwie durchs soziale Netz gefallen, was in der reichen Schweiz schwer vorstellbar ist und heftig als unrealistisch angegriffen wurde. Aber auch im Sozialverhalten deutlich neben der Spur. Die Wohnung dieser „Familie" liegt neben einer Schnellstraße. Genau wie in „Home" dem französisch-schweizer Vorgänger von Ursula Meier, in dem eine Familie im surrealen Kampf mit einer Autobahn zerbricht. Isabelle Huppert spielte dort die Hauptrolle. Nun hat Gillian „Scully" Anderson eine prominente Nebenrolle als reiche Touristin. Doch Léa Seydoux übertrifft dies und beeindruckt als grandios schlampige und ordinäre Louise.