11.8.08
Festival Locarno - Gipfeltreffen
Locarno. Das Gipfeltreffen des internationalen Films in den Schweizer Südalpen gestaltete sich in vielerlei Hinsicht als begeisternde Achterbahnfahrt der Gefühle und Impressionen. Dem Höhenrausch des Erfolges folgt der Absturz in Depression und Krankheit. Das „61. Festival internazionale del film“ von Locarno (6.-16.8.2008) beeindruckt in den ersten Tagen mit großem Kino der Extreme in der passenden Naturkulisse aus Tausendern, die den See umstehen, und den dunklen Abgründen des Lago Maggiore, dem tiefsten der oberitalienischen Seen.
Ickarus stürzt ins Kuckucksnest
Erneut erweist sich das Open Air-Kino der Piazza Grande als Trumpf von Locarno. Dabei beeindrucken nicht nur die unvergleichliche Atmosphäre und die Bergkulisse. Der in „Berlin Calling“ genial nachempfundene Höhenflug mit Absturz des Berliner Techno-DJ Ickarus bewies, dass die Piazza zur Riesenleinwand mit einem grandiosen Sound aufwartet. Ein Meisterstück im Rhythmus von Beat und Electro dabei der Film von Hannes Stöhr („Berlin is in Germany“, „One Day in Europe“): Der Electro-DJ und –Komponist Martin (Paul Kalkbrenner), genannt DJ Ickarus, ist auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Dann stürzt Martin von einem seiner dauernden Drogentrips zu tief in eine Psychose und wacht in der Klinik von Frau Dr. Petra Paul (eiskalt: Corinna Harfouch) auf. Die Räusche, die durchgetanzten Tage und Nächte, die Veränderung der Persönlichkeit durch die chemischen Keulen – all das lässt „Berlin Calling“ glaubhaft und authentisch miterleben. Ein genialer Filmrausch, mit dem berühmten deutschen DJ Paul Kalkbrenner in der Hauptrolle. Der ausgesprochen talentierte Darsteller schloss den Filmabend auf der Piazza mit einem improvisierten Liveset ab. Weit nach Mitternacht tanzte die alte Piazza Grande mit 130 bpm ausgelassen wie ein junger Hüpfer.
Eher kalt ließ die Kritik das Bergsteiger Drama „Nordwand“ von Philipp Stölzl („Baby“): Vom faschistischem Elite-Denken angefeuert, versuchen sich ein deutsches und ein österreichisches Duo 1936 an der Erstersteigung der Eiger-Nordwand – mit den erfrorenen Fingern, brechenden Knochen und Schneeleichen, die das Genre so mit sich bringt. Die heroische Hauptrolle spielt Benno Fürmann, nicht gerade ein Gigant der Schauspielerei. Während sein Liebchen (Johanna Wokalek) bangend wartet, überdehnt das Zweistunden-Drama den Handlungsfaden. Das kernige „Halt durch“ richtet sich auch ans Publikum, mit den Gliedmaßen stirbt das Interesse ab. Der zynische Sensationsreporter (Ulrich Tukur) schließ pathetisch: „Deutschland wird diese Männer nie vergessen!“ – ein Fluch, der sich mit dem Film „Nordwand“ leider erfüllt. Selbst wenn man Patriotismus ansonsten rechts liegen lässt, auch 2008 sind deutsche Produktionen nicht zu übersehen. Zum Glück bis auf „Nordwand“ ohne Deutsch-Nationales.
33 geniale Szenen
Die Sensation des Wettbewerbes ist bislang „33 Szenen aus dem Leben“ der Polin Malgosia Szumowska. In der deutsch-polnischen Koproduktion erlebt die Protagonistin Julia (sehr beeindruckend: Julia Jentsch) innerhalb eines Jahres die Krebserkrankung der Mutter, den Tod des Vaters, das Ende ihrer Künstlerkarriere und die Trennung von ihrem Mann. Genauso wenig wie Julia lässt sich der wunderbare Film unterkriegen. Einfühlsam balanciert er Tragik und Humor. Die Filmstiftung NRW engagierte sich ideell und finanziell beim Zustandekommen dieses zutiefst menschlichen Films.
Auch an "Die Möglichkeit einer Insel", die verquere erste Regiearbeit von Regisseur und Bestsellerautor Michel Houellebecq, war die Filmstiftung beteiligt, doch dessen altmodischer Science Fiction über die Zukunft der Menschheit ist nicht nur schwach inszeniert und gespielt, er ärgert auch noch mit der primitiven Quintessenz „Mann sucht Frau“. Da freute man sich auf die andere Literaten-Premiere, die erste Regie von Alessandro Baricco („Seide“) „Lezione 21“, die gestern Abend ebenfalls als Weltpremiere lief.
„Berlin Calling“ ist am 14. August auf der Kölner Musikmesse c/o pop zu sehen.