15.8.08

Abschluss beim 61. Internationalen Filmfestival Locarno

Das Leid mit der Kunst

Resümee des 61. Internationalen Filmfestival Locarno

Als man den jungen Musiklehrer Peters im Winter 1824 erfroren an einem See fand, umschlossen seine Finger die Geige so fest, dass man das Instrument mit ihm begraben musste. Dieses eindringliche Bild aus Alessandro Bariccos „Lezione 21“ zeugt von enormem Einsatz für die Kunst, während der Film mit Vergnügen große Kunst – nämlich Beethovens „Neunte“ – demontiert. Locarnos Festivaldirektor Frédéric Maire brach vor zwei Jahren genau vor dieser Leinwand zusammen, die beim 61. Internationalen Filmfestival Locarno (6.-16.8.2008) etwas zu vernünftig und gemäßigt großes Kino zeigte. Man kann nicht immer vollen Einsatz für die Kunst fordern. Wohin das führt, zeigte das DJ- und Drogen-Drama „Berlin Calling“. Aber ein Festival mit Charakter muss auch mehr leisten als volle Plätze...

Die Welle großartiger deutscher (Ko-) Produktionen („33 Szenen“, „Berlin Calling“, „NoBody’s Perfect“) und grandios Elender („Nordwand“, Houellebecqs „Die Möglichkeit einer Insel“) bildete den Auftakt. Danach blieb Raum für das Entdecken, wobei jeder Kommentar selbstverständlich nur eine eingeschränkte Auswahl aus fast 200 Filmen leisten kann. Die Ernte des Wettbewerbs wird die Preisverleihung am heutigen Abend offenlegen. Auf der Piazza bot Locarno 2008 größtenteils gängiges Filmmaterial. An vielen Abenden war das Widerspenstigste der holperige Pflasterbelag des Platzes. „Son of Rambow“, der nächste Woche als „ „Der Sohn von Rambow“ auch in die deutschen Kinos kommt, unterhielt mit der netten Geschichte des elfjährigen Will. Obwohl der strenge Glauben seiner Familie ihm Fernsehen und Film verbietet, dreht er ein Amateuer-Remake des Rambo-Films „First Blood“. Ein Wohlfühl-Film über eine mutige Emanzipation aus den Familienklauen einer altmodischen Glaubensgemeinschaft, eine kleine Hommage an „Rambo“, eine wenig verschlüsselte Geschichte über das Filmemachen und die Intrigen, die dabei ans Scheinwerferlicht kommen – ein netter Film.

Das war bei den Vorgängern des Festivaldirektors Frédéric Maire (in seinem vorletzten Jahr) oft anders, bis hin zu einem Straub/Huillet-Film, mit dem der jetzige Venedig-Chef Marco Müller cineastisch kompromisslos die Piazza in Rekordtempo leer fegte. Zudem machten sich Sponsorenplätze auffallend breit. Doch das traditionell kritische und junge Publikum war immer noch da: So nahm die Schweizer Weltbank UBS als Sponsor des Publikumspreises Leinwand und Sitzreihen für sich ein – und kassierte wie in jedem Jahr reichlich Pfiffe von dem Publikum, das dann doch freudig abstimmte. So funktioniert Festival-Dialektik.

Gelungen wie immer die historische Abteilung: Der italienische Regisseur, Produzenten, Kinobesitzer und Schauspieler Nanni Moretti, dem eine ausführliche Retrospektive gewidmet war, überraschte nicht mit seiner persönlichen Auswahl von Lieblingsfilmen – die waren wie erwartet erstklassig. Sein Leckerbissen war ein Filmquiz auf der Leinwand, bei dem die Zuschauer mit Antwortzetteln mitspielen durften. Ob in einer späteren Ausgabe auch Locarno-Filme des Jahres 2008 dabei sein werden, muss die Kritik der Zeit zeigen. Bewegendes Kino der Zukunft war jedoch nicht im Übermaß zu entdecken.