Großbritannien 2021, Regie: Kenneth Branagh, mit Caitríona Balfe, Judi Dench, Jamie Dornan, Ciarán Hinds, Jude Hill, 99 Min., FSK: ab 12
Von einem schwungvollen, farbigen Prolog des heutigen Belfasts geht es in eine quicklebendige schwarzweiße Straße des Jahres 1969. Bevor unvermittelt die Gewalt mit Molotowcocktails in die Fenster einschlägt. Weil noch ein paar Katholiken im protestantischen Viertel leben, fällt ein Mob in die familienfreundliche Nachbarschaft ein. Ein Mülltonnendeckel, der für den neunjährigen Buddy (Jude Hill) gerade noch Schild beim Ritter-Spiel war, wird seiner rettenden Mutter zum Schutz gegen fliegende Pflastersteine. Am nächsten Tag verbarrikadiert eine hohe Mauer die Straße. Das Militär rückt zum Schutz mit Panzer an.
Plötzlich schlagen sich Erwachsene in der jahrzehntealt vertrauten Nachbarschaft wegen Kinderstreitereien mit Fäusten. Kleine Gangster spielen sich zu politischen Führern auf und nutzen die Gelegenheit aus, um Macht zu spüren. Was in Kurzfassung den Charakter vieler „Kämpfer" im Bürgerkrieg bis heute beschreibt – sie waren einfach nur Gangster.
Der geniale Regisseur Kenneth Branagh wurde 1960 in Belfast geboren. Als er neun Jahre alt war, zog die Familie nach England. Im Anschluss an eine erste Karriere als Bühnenstar in Shakespeare-Stücken begeisterte er direkt mit seinen Filmversionen („Hamlet" 1996, „Verlorene Liebesmüh" 2000, „Wie es euch gefällt" 2006). Populär wurde er vor der Kamera als „Kommissar Wallander" und im Regiestuhl mit Knallern wie „Thor" (2011) oder „Tod auf dem Nil" (2022). Nun drehte er über die eigene Jugend im nordirischen Belfast seinen persönlichsten Film – vor allem im Vergleich zur Auftragsarbeit von Agatha Christie-Verfilmungen. Die Eskalation der Gewalt im von England besetzten Teil Irlands ab 1969 – der „Nordirlandkonflikt" – zeigt „Belfast" aus dem Blick des kleinen Jungen Buddy. Dadurch wird die Gewalt abgeschwächt dargestellt. In den wunderbaren Schwarzweiß-Lichtspielen steckt in jedem Bild spürbar viel Herz und Sehnsucht nach dieser Zeit.
Vorbilder für Kenneth Branagh waren John Boormans „Hope and Glory", Spielbergs „Empire of the Sun" oder „Auf Wiedersehen, Kinder" von Louis Malle. Auch an Pedro Almodóvars „Leid und Herrlichkeit" kann man in der Reihe großer Meisterwerke denken. Zu den magischen Erinnerungen gehören ein Koffer voller Matchbox-Autos und vor allem die Besuche in Theater und Kino mit Raquel Welch („Eine Million Jahre vor unserer Zeit") und „Tschitti Tschitti Bäng Bäng". Eine ganz andere Welt in Farbe! Im Fernsehen läuft „Raumschiff Enterprise" abwechselnd mit den Nachrichten über Unruhen vor der Haustüre!
Das „High Noon" („Zwölf Uhr mittags") des Vaters mit einem grandiosen Gary Cooper-Moment ist ein Hohn für die selbsternannten Sheriffs. Und fortan muss die Familie um ihre Sicherheit fürchten. Die Bedrohung kommt von den „eigenen Leuten", typisch für diesen Bürgerkrieg, der gnadenlos Unbeteiligte massakrierte.
Buddys oft abwesender Vater (Jamie Dornan) arbeitet als Tischler in England, wo es mehr Jobs gibt und die Bezahlung besser ist. Trotzdem hat er dauernd Geldprobleme, welche die Mutter (Caitriona Balfe) zur Weißglut bringen. Sie glänzt in der Erinnerung als lebenslustige, junge Frau. Judi Dench spielt mit wunderbar faltigem Gesicht die im Viertel verwurzelte Oma. Mit Opa (Ciarán Hinds) streitet sie sich immer liebevoll, legt aber auch ein herzerwärmendes Tänzchen aufs Parkett der Küche. Die Hassreden der Priester zeigen derweil erschreckende Monster auf der Kuppel. Überhaupt beglückt „Belfast" auch in stilvollen Bildern mit tollen Physiognomien vor Ziegelmauern. Der lebendige Wechsel von sorgenvollen Momenten und Familienglück zu Van Morrison-Songs ist unbedingt sehenswert!