30.4.12

Tomboy

Frankreich 2011 (Tomboy) Regie: Céline Sciamma mit Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani, Mathieu Demy 84 Min. FSK ab 6

Sie gleiten durch den prallen Sommer fast wie im Traum: Ein Vater (Mathieu Demy) lässt sein Kind auf dem Schoß lenken, eine Hand segelt im Fahrtwind, Beine baumeln über der Tiefe. Die Figuren in Céline Sciammas schönem Film sind direkt nah und sehr präsent. Die Familie ist umgezogen, es gibt ein neues Kinderzimmer mit blauen Wänden. Draußen warten schon die anderen Kinder vom Wohnblock. Mickaël findet in Lisa schnell eine Freundin. Es wirkt androgyn, dieses Kind, das Lisas Einordnung als Junge gerne aufgreift, denn zuhause nennt man sie Laure. Der Film muss sich da nicht so schnell festlegen, kann das Geschlecht länger reizvoll in der Schwebe halten als die Sprache.

Weil die hochschwangere Mutter im Bett liegen bleiben muss, kümmert sich Laure (Zoé Héran) liebevoll um die kleinere Schwester Jeanne (Malonn Lévana). Die mit rosa Ballett-Tüll die Rolle voll erfüllt. Draußen imitiert Mickaël nach netten Bewegungs- und Veraltensstudien die Jungs, zieht sich das T-Shirt beim Fußball aus und spuckt maskulin auf den Platz. Nur beim Stehend-Pinkeln gibt es Probleme. Der unerlässliche Blick in den Spiegel kopiert die abgeguckten Gesten. Fürs Schwimmen schneidet Laure den Bikini ab und stopft sich ein Genital aus Knete in die Hose. Das Ersatz-Geschlecht kommt abends zu den ausgefallenen Milchzähnen - es gibt einige Umbrüche im Leben eines Kindes. Eine Menge Mühen für den richtigen Platz im Leben und alles muss Laure alleine regeln. Nur die kleine Jeanne lügt irgendwann für ihr Alter erstaunlich raffiniert mit. Aber es sind Ferien, kein Erwachsener will richtige Namen wissen und auch der Film erzählt leicht und undramatisch. Erst als Lisa „ihn" verliebt küsst, wird es komplizierter mit der Geschlechts-Identität.

Transvestit oder transsexuell - großen Worte passen nicht zur Leichtigkeit dieser Geschichte. „Tomboy" ist kein „Problemfilm". Viel zu sehr packt das faszinierend androgyne Spiel von Zoé Héran, wie überhaupt die tollen Kinderdarsteller mit ihrem sehr natürlichen Verhalten der Regisseurin Céline Sciamma besonders hoch anzurechnen sind. Bei all den weichen, hellen Bildern sticht eines heraus, das die Sorgfalt hinter den so selbstverständlich wirkenden Kompositionen verrät: Im Wald hängt das zurückgelassene Kleid über einem quer liegenden, abgestorbenem Baum während Laure in Jungenklamotten weg geht.

Schon mit „Water Lilies", der ersten Liebe von zwei Synchronschwimmerinnen, beobachtete Sciamma sanft, wie Gefühle nicht zu Konventionen passen. Damit ist „Tomboy" eher mit Alain Berliners Komödie „Mein Leben in Rosarot" verwandt als mit dem dramatischen „Boys dont cry", dem Oscar-Film 2000 mit Hilary Swank. Erst die Grausamkeiten der Kinder und der in ihrer Liebe verletzten Lisa deuten die schrecklichen Kämpfe an, die Laure vielleicht bevorstehen. Doch die letzte Szene eines Neuanfangs kurz vor Schulbeginn gibt mit einem Lächeln Hoffnung.