23.11.21

À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen


Frankreich, Belgien 2021 (Délicieux) Regie: Éric Besnard, mit Grégory Gadebois, Isabelle Carré, Benjamin Lavernhe, 113 Min., FSK: ab 0

Die Revolution im Restaurant

Wie Königin Marie Antoinette meinte, das hungernde Volk solle doch Kuchen (eigentlich: Brioche) essen, wenn es kein Brot mehr habe, hält sich als Anekdote rund um die französische Revolution. Dass in dieser Zeit auch das Restaurant entstand, wie wir es heute kennen, ist hingegen historisch korrekt. Éric Besnards („Birnenkuchen mit Lavendel") ebenso sinnlicher wie geistreicher Film macht daraus eine fiktive Geschichte von Genuss, mehrfacher Emanzipation und Revolution.

Wir schreiben das geschichtsträchtige Jahr 1789: Pierre Manceron (Grégory Gadebois), begnadeter Koch, arbeitet für den Duc de Chamfort (Benjamin Lavernhe). Zwar ist der stille Manceron der Stolz des Herzogs, aber dann macht der hässliche, dekadente Adel in gourmet-kritischen Bonmots seine „Délicieux" genannte Vorspeise herunter. Weil „erdige" und deutsche Zutaten wie Kartoffeln drin seien! Manceron entschuldigt sich nicht und findet sich mit dem bücherliebenden Sohn bald in den Ruinen der väterlichen Poststation wieder. Stolz und dickköpfig beginnt der rundliche Mann, Brot zu backen und Suppen aus den Kräutern der Gegend zu kochen. (Das erinnert schon an ganz moderne Konzepte wie vom „Noma" in Kopenhagen.) Beides erfreut sich bald großer Beliebtheit. Sogar die angebliche Konfitüren-Macherin Louise (Isabelle Carré) bietet sich resolut als Küchen-Gesellin an. Die Postkutscher verändern bald den Fahrplan für die besonderen Mahlzeiten Mancerons. Der kann es kaum erwarten, dass sein exzellenter neuer Ruf den alten Herrn herbeilockt. Doch nicht nur er hat noch eine Rechnung mit dem Herzog offen...

Wie der literarische gebildete Sohn Benjamin (Lorenzo Lefèbvre) den Vater im freien Geiste Rousseaus animiert, sich von der Herrschaft Chamforts loszusagen, ist einer der vielen historischen Verweise im wunderbar dichten, vielschichtigen und überraschenden Meisterwerk „À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen". Das Sahnehäubchen vom historischen und Liebes-Film ist die spielerische Nacherzählung vom Entstehen der modernen Restaurants. Tatsächlich waren es die in der Französischen Revolution ohne kopflose Herrschaft arbeitslos gewordenen Köche, welche die Anzahl der Restaurants in Paris in wenigen Jahren von unter Hundert auf mehrere Hunderte anstiegen ließen. Doch aus diesem trocken Wiki-Wissen macht Besnard einen wunderschönen Spaß: Manceron erfindet etwa moderne Küchen-Spielereien wie die „Amuse bouche". Historisch korrekt jedoch, dass ein Wechsel vom großen Gasttisch zu Einzeltischen stattfand. Ebenso kam die Menükarte auf, mit der neuerdings zu jeder Zeit, die dem Gast beliebte, gegessen werden konnte. Später kam die Boullion hinzu, aber das ist eine andere Geschichte von den Suppen, die hier nur geringschätzig nebenbei erwähnt werden. Der Sohn will anders modern auf Fleisch verzichten, weil es aggressiv mache. Dabei hungert ihm nach Neuigkeiten aus dem revolutionären Paris. Das herrlich bürgerliche Finale fasst grandios den Wechsel vom Menü bei Hofe zum volkstümlichen Gastmahl unter Gleichen zusammen. (Schade nur, dass sich mittlerweile mit dem ganzen kulinarischen Kult eine neue kapitalistische Aristokratie der Gourmets entwickelt hat.)

„À la Carte!" ist weit von der belanglosen Nettigkeit vieler französischer Filme entfernt, wie sie Éric Besnard selbst mit „Birnenkuchen mit Lavendel" abgeliefert hat. Bei reichlich vielen Plots passt auch noch ein soziologische und kultur-historischer Hintergrund vom Feinsten hinein. Dabei gelangen im einfachen Setting der frisch restaurierten Poststation exquisite Aufnahmen, das Schauspiel ist sowie zum Fingerlecken. Im Menü der Küchen-Filme ist dies sicher der historisch nahrhafteste.