10.12.21

Annette


Frankreich, Deutschland, Belgien 2021, Regie: Léos Carax, mit Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg, 140 Min., FSK: ab 12

Die Filme von Leos Carax waren immer auch großartige Soundtracks. Legendär ist der „travelling shot" aus „Die Nacht ist jung" („Mauvais sang", 1986) mit Denis Lavant zu David Bowies „Modern Love", nett kopiert von Greta Gerwig in „Frances Ha" (2013). So überrascht es nicht, dass die französische Regie-Legende („Die Liebenden von Pont-Neuf") ein Musical macht. Dabei ist „Annette" als düstere Moritat eher den melancholischen Musicals des Franzosen Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg") verwandt, als den oft fröhlichen US-Singspielen. Die Musik zur manchmal fast zwölftönenden Rock-Oper besorgten die „Sparks", die auch das Drehbuch mitschrieben. Marion Cotillard und Adam Driver spielen als tragisches Liebespaar erneut groß auf.

Wie ein Boxer im dunkelgrünen Bademantel und mit Kippe tänzelt sich der polarisierende Stand-Up Comedian Henry McHenry (Adam Driver) zu seiner provokanten Bühnenshow „The Ape of God" (dt: der Affe Gottes) warm. Als düstere, aggressive Figur reflektiert er in der irren Show das Showbusiness und das erwartete, gewollte, erzwungene Lachen. Die Medien hypen Henry noch mehr, seit er mit der berühmten Opernsängerin Ann Desfranoux (Marion Cotillard) zusammen ist. Sein Bühnen-Kommentar zur anderen Kunst ist allerdings wenig nett: „Die Oper, wo alles heilig ist, wo man stirbt und stirbt und stirbt, und sich dann verbeugt, verbeugt, verbeugt..." 

Das Liebesmotiv „We love each other so much" trägt sie vom Broadway in Los Angeles auf seinem schweren Motorrad vorbei an Leuchtreklamen zu ihrem idyllischen Strandhaus. Nach Anns Schwangerschaft werden Henrys Show und Stimmung noch düsterer. Bei einem Jacht-Urlaub, der die Ehe retten sollte, ertrinkt Ann, während er das Schiff betrunken im Sturm steuert. Allein mit Baby Annette entdeckt Henry eines Nachts ein wundervolles Singen, bei dem das Kind durch den Raum schwebt. Um dieses Talent auszubeuten, engagiert der nicht mehr erfolgreiche Comedian sogar Anns ehemaligen Liebhaber als Dirigent (Simon Helberg). Ann erscheint ihrem Mörder im Schlaf als Wasserleiche und prophezeit, dass Annettes Gesang sein Fluch sein soll.

Mit der wunderbarsten Plansequenz seit „Baby Driver" trumpfen Carax und „Annette" gleich in der ersten Szene, einem Prolog, auf. Von der Tonstudio-Aufnahme (Toningenieur Carax) mit den Sparks folgt die Kamera den Hauptdarstellern zum Song „May we start?" (dt: Lass uns loslegen!) raus auf die Straße. Die Beglückung ist hier gelungen. Danach wird es düster in dem Musical der anderen Sorte. Was vor allem an Adam Drivers Henry McHenry liegt. Er darf mit einer Frisur im Stil von „Salvator Mundi" nach „The House of Gucci" diesmal etwas lebendiger aufspielen.

Es gibt Sprechgesang und noch mehr großartige Nummern, die allerdings keine gute Laune machen, wie sonst üblich beim Musical. Das Ernüchternde kommt nicht von einer Art Realismus wie in „La La Land" oder Lars von Triers „Dancer in the Dark". Spätestens mit der „Geburt" von Annette als hölzerne Marionette mit rotem Haar ist ein Element des Surrealen präsent. Wie bei den sprechenden Limousinen in Carax' letztem Film „Holy Motors" (2012).

Erstaunlicherweise hat der 1960 in Paris geborene Carax, trotz seines legendären Namens gerade mal sieben Filme realisiert. Allerdings immer großes, leidenschaftliches Kino. Das Wilde seiner frühen „Die Liebenden von Pont-Neuf" und „Mauvais Sang" ist in „Annette" nicht mehr vorhanden. Es ist trotzdem bis zum herzzerreißenden finalen Duett über die wahre Höchststrafe eines der großen ungehobelten und hartnäckig weiterwühlenden Meisterwerke wie „Synecdoche, New York" von Charlie Kaufman.