30.12.13

Imagine

Frankreich, Großbritannien, Polen, Portugal 2013 Regie: Andrzej Jakimowski mit Edward Hogg, Alexandra Maria Lara, Melchior Derouet, Francis Frappat 105 Min. FSK: ab 0

Wie will ausgerechnet ein Film die Welt der Blinden vermitteln, diese so dominant optische Ausdrucksform, die noch die wichtige Arbeit der Tonkünstler sträflich verschweigt? Derek Jarman, ein genialer britischer Regisseur und Künstler „drehte" einst, als er beinahe ganz erblindet war, den erstaunlichen Hör-Film „Blue": Pures Blau auf der Leinwand und ergreifende Poesie auf der Tonspur ergänzten sich zu einem unvergleichlichen Erlebnis. Nun bringt in „Imagine" ein blinder Lehrer an einer Blindenschule in Lissabon auch den Zuschauern das Sehen mit den Ohren nahe.

Edward Hogg (Ian) kommt als freundlicher Neuzugang an eine vielsprachige Blindenschule in Lissabon. Dabei bewegt er sich so sicher im dunklen Meer der Geräusche, dass man mit den Schülern lange zweifelt, ob er wirklich blind ist. Cool mit einem verschmitzten Lächeln um die Lippen entscheidet er sich für das Zimmer neben der schweigsamen und zurückgezogenen Eva (Alexandra Maria Lara), einer der erwachsenen Bewohner des klosterähnlichen Instituts. Der erste Kontakt verläuft dann auch so ungewöhnlich wie fast alles an diesem schönen und reizvollen Film: Nachdem Ian hörte, dass seine Nachbarin immer Vögel auf dem Fenstersims füttert, ahmt er mit einem Draht Spatzen nach, die nun anscheinend auf seiner Fensterbank picken, und weckt so Evas Neugierde.

Selbst immer tastend und forschend macht Ian jeden neugierig - die Schüler genauso wie das Kollegium. Des Nachts verlässt er das abgeschlossene Gelände mit unbekanntem Ziel und immer bewegt er sich ohne Bindenstock - „Blinde brauchen keinen Stock, außer sie haben ein Problem beim Gehen!" So selbstbewusst und einfallsreich lehrt Ian die Kinder zu hören und sich dabei mit Hilfe der Echos ihrer Schritte zu orientieren. Dabei stellen ihm die Kinder in einer Struktur von tastenden Wiederholungen immer neue Fallen auf dem Weg. Immer wieder muss er sich Ungläubigen beweisen und wie Galileo Galilei seine spezielle Weltsicht verteidigen. Was ein sehr humorvoller Prozess sein kann: Die Schuhanprobe mit einer Frau gerät ganz anders, wenn sie das Modell mit dem markantesten reflektierbaren Schall finden soll. Dabei sehen die High Heels allerdings auch noch ziemlich scharf aus.

Ian hört mehr als andere sehen, sogar mehr als viele sich vorstellen können. Es ist ein sehr abgegriffenes Klischee, dass Blinde die Welt besser wahrnehmen. Aber in „Imagine" ist es ein schönes, sinnliches Erlebnis, mit Ian und Eva Lissabon zu entdecken. Dabei kommt auch mal eine Bulldogge vor ihren Augen - oder so - unter die Räder. Ebenso wie sich die Handlung nicht einem Harmonie-Brei ergibt, erfreut auch die Bildgestaltung mit überraschenden Perspektiven und Bildlösungen für Situationen, die ausgerechnet dem sehenden Zuschauer zu offensichtlich sein könnten: Raffiniert, wie Regisseur Andrzej Jakimowski („Kleine Tricks", 2007) und sein Kameramann Adam Bajerski das Rätseln der Blinden mit uns teilt, weil wir gerade eben nicht alles sehen.

So wie Ian Eva an die Hand nimmt, sie durch Gassen und über belebte Straßen zu einem kleinen Café führt, nimmt uns der Film mit. Er erzählt uns von einem großen Schiff, das in der Nähe ankert und als sich der Verursacher dieses Echos als eine Mauer - immerhin in Schiffsform - erweist, gerät diese Enttäuschung führt letztendlich zu einer weiterführenden Erkenntnis und einem ganz besonderen Liebes-Bekenntnis. Das ist Szene für Szene sehr faszinierend und auch ästhetisch reizvoll gestaltet. Dank einer geschickten Soundmischung entdecken auch wir mit Ians Erklärungen die Geräuschkulisse der portugiesischen Metropole. „Imagine" kann man sich als ein Mut und neugierig machendes Plädoyer ausmalen, sich nicht mit dem ersten Eindruck, mit der Oberfläche zufrieden zu geben, genau hinzuhören zu riechen und auch zu schauen.