Tschechien, BRD 2010 (Alois Nebel) Regie: Tomás Lunák mit Miroslav Krobot, Marie Ludvíková, Karel Roden, Leos Noha 75 Min. FSK: ab 12
Ein kleiner Bahnhof in polnisch-tschechischer Grenznähe. Fahrdienstleiter Alois Nebel kümmert sich um nichts und niemanden. Für sich wiederholt der Sonderling in Gedanken immer wieder Ortsnamen und Uhrzeiten aus alten Fahrplänen der tschechoslowakischen Bahn, nur um nicht nachzudenken oder sich zu erinnern. Denn aus der Nebelwolke der Erinnerung tauchen immer wieder Bilder von Deportationen auf, von Vertreibungen und einem Schuss im Rauch der Dampflok.
Im Vorspann erleben wir die Flucht eines Mannes und einen Hinweis auf das historische Hin und Her in diesem Grenzgebiet um Bílý Potok: Die Annexionen durch Nazi-Deutschland, dann nach Ende der deutschen Besatzung die Vertreibung der Sudetendeutschen. Im Herbst 1989, kurz vor der Samtenen Revolution wird Alois Nebel schließlich von einem intriganten Kollegen in die Psychiatrie geschickt. Auch dessen Konspiration mit dem Polizisten und dem Chefarzt verweisen auf ein Verbrechen in der Vergangenheit. Irgendwann ist Nebel raus aus der Anstalt und auch aus seiner Anstellung bei der Bahn. In Prag ist er Obdachloser mit Bahner-Uniform, der bald Bekannte und auch eine Freundin findet. Mit Vollbart und ohne Brille kehrt er zurück, um wieder auf den „Stummen" zu treffen, der sich weiterhin in der Gegend versteckt. Dessen Absichten stellen sich erst in einem seltsam dramatischen Finale mit einem Unwetter, das alles wegschwemmt, heraus. (Bílý Potok war 2000 tatsächlich Ort großer Überschwemmungen.)
Die faszinierende Animation „Alois Nebel" basiert auf einer gleichnamigen Trilogie über den melancholischen Eisenbahner, die 2003 in Tschechien veröffentlicht wurde. Autoren der Graphic Novel sind der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und der Zeichner Jaromír Švejdík, bekannt unter dem Künstlernamen Jaromír 99. Sie leuchten ein dunkles Kapitel mitteleuropäischer Geschichte kunstvoll in expressivem Schwarz-Weiß aus.
Die Verfilmung von Tomáš Luňák begeistert ebenso durch ihren Stil: „Alois Nebel" ist ein „übermalter" Realfilm. Diese „Rotoskopie" wird oft eingesetzt, um schwer Ausdrückbares zu zeigen: Verbrechen israelischer Soldaten in „Waltz with Bashir", letztens mit „Der Kongress vom gleichen Regisseur Ari Folman oder auch beim Drogentrip „A Scanner Darkly - Der dunkle Schirm" von Richard Linklater und mit Keanu Reeves. Bei „Alois Nebel" macht dies Verfahren die Gesichter teilweise arg grob zu Masken, aber in der künstlerischen Überhöhung entstehen auch einzigartige Bilder.
Diesmal wird im Trend von „The Artist" und „Blancenieves" im reinen Schwarz-Weiß „gezeichnet", das stellenweise wie Scherenschnitt aussieht. Faszinierend, wie bei einer nächtlichen Aufnahme Wasser spritzt, wie das lichtüberflutete Zimmer von Nebel erbebt, wenn Züge vorüber fahren oder die Erinnerung kommt. Oder die Blitze bei den Elektroschocks, die „der Stumme" erhält.