6.2.09

Berlinale Vorlesen, Abfilmen, Abheben


Der Wettbewerb beeindruckt konkurrenzlos

Berlin. Ihre beide frischen Golden Globes hatte sie nicht dabei, doch schon die Erwartung ihres Auftritts machte sie zum heißesten Star und Cover-Girl der Berlinale: Kate Winslet wird nicht mehr verlacht, keiner wagt mehr ihr Image zu retouchieren. Ihre schwierige und keineswegs schöne Rolle in „Der Vorleser“ belohnt den Mut, die ihre Rollenwahl immer gezeigt hat, endlich mit Erfolg. Sie muss zwei Seiten eines Menschen in eine Figur bringen, dazu viele Lebens-Jahre mit den entsprechenden Masken überbrücken. Und es gelingt ihr eindrucksvoll!

Stephen Daldry („Billy Elliot“, „The Hours“) verfilmte Bernhard Schlinks Erfolgsroman „Der Vorleser“ mit amerikanischen und deutschen Geldern, drehte unter anderem in NRW. Es beginnt mit einer ungleichen Affäre im Berlin der 50er Jahre. Dem 15-jährigen Michael hilft eine ältere Frau - zuerst bei einem Schwächeanfall, dann beim Entdecken von Lust und Liebe. Aus zufälligen werden regelmäßige Treffen, irgendwann liest der gebildete Junge der einfachen Schaffnerin Hanna als Vorspiel aus Klassikern der Weltliteratur vor. Humanistische Bildung gegen eine schöne Körperlichkeit, die Kate Winslet auch unverhüllt zeigt. Jahre später trifft der Jura-Student Michael seine erste Liebe Hanna im Gerichtssaal wieder. Ihr wird vorgeworfen, als Wärterin des Konzentrationslagers Auschwitz, 300 Menschen umgebracht zu haben. Erst spät versteht der entsetzte junge Mann, was in dieser Frau wirklich vorgeht. So wird er selbst - wieder einige Jahrzehnte weiter, noch einigen gescheiterten Beziehungen - als verschlossener, verhärmter Mann (Ralph Fiennes), die Erinnerung an Hanna nicht los.

Bernhard Schlinks Bestseller hat seit seinem Erscheinen 1995 nichts von seiner Stärke verloren. Immer noch bleibt das Wesen der Hanna zwischen Monster und Opfer rätselhaft. Es sei eine Geschichte über den Umgang mit den Grauen von Holocaust und Nazi-Herrschaft zwischen den Generationen, erzählt Regisseur Daldry. Er hielt sich im Gegensatz zu seinen Literatur-Geschichten „The Hours“ diesmal mit Film-Poesie zurück. Aber er kann sich bei einer soliden Inszenierung ganz auf sein Team und auf die guten Schauspieler verlassen. David Kross, der den jungen „Vorleser“ spielt, wird in diesem Jahr in Berlin als deutscher Vertreter bei den Shooting Stars, der Galerie europäischer Nachwuchs-Mimen, vorgestellt. Beim Dreh musste man für die Liebesszenen auf ihn warten - er war noch keine 18!

Abgehoben
Selten fiel das Urteil über eine Regisseur kürzer und einfacher aus: François Ozon hat einen Vogel. Nach der nächtlichen Presse-Vorführung seines Wettbewerbsbeitrages „Ricky“ waren die Reaktionen amüsiert bis irritiert. Man könnte auch sagen, er hat einen himmlischen Helden. Die Geschichte ist eine ganz einfache. Katie schlägt sich alleinerziehend mit ihrer Tochter durchs Leben. (Hauptdarstellerin Alexandra Lamy sieht glücklich ein wenig aus wie Sandrine Bonnaire, dann wieder sehr erschöpft und völlig aufgelöst.) Eines Tages trifft sie in der Fabrik den neuen Kollegen Paco (Sergi Lopez), auf der Werkstoilette kommen sie sich sehr schnell sehr viel näher. Nach einem Abendessen zieht er bei ihr ein und ein paar schnell erzählte Szenen weiter ist Katies Sohn Ricky schon geboren. Bis hierhin könnte es ein Sozialdrama werden, vielleicht erfreut uns der Franzose, der das Musical „8 Frauen“ machte, die Fassbinder-Hommage „Tropfen auf heiße Steine“ oder den Frauen-Thriller „Swimming Pool“, mal mit einer Komödie.

Doch es kommt ganz anders, Ricky ist sehr hungrig, schreit die ganze Zeit und ihm wachsen ... Flügel! Jetzt hebt die Geschichte mit Hilfe von Computertricks ziemlich ab, an Rickys Rücken zappeln kleine Chicken Wings und im Publikum schütteln sich die Köpfe. Ein „fantastischer Familienfilm“ der vielleicht die Gefühle der vernachlässigten Erstgeborenen ausdrückt, aber auf jeden Fall als äußerst seltsam zu interessieren oder irritieren weiß.

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Abgedreht
Ein anderer Franzose macht aus einer ziemlich schrägen Geschichte, aus einem Mordfall mit alten Geistern, ganz stilsicher einen völlig glaubwürdigen Film: Bertrand Tavernier, dem Dokumentar-, Komödien-, Kriegs-, Melodram-Filmer gelingt mit dem atmosphärischen Thriller „In the electric mist“, was Tom Tykwer nicht schaffte: Er geht in einem Genre ganz auf und gibt der bekannten Form doch eine fast unsichtbaren eigenen Touch.

#Detective Dave Robicheaux (Tommy Lee Jones) jagt in Louisiana einen Serienkiller und lernt den dauernd betrunkenen Hollywood-Star Elrod T. Sykes kennen, der gerade in den Sümpfen dreht. Die Handlung wäre mit einem weiteren Satz schon zum Ende geführt. Ist auch nicht so wichtig wie all die prallen Szenen, in denen eigenwillige Figuren ihren Weg gehen. Oder die Erscheinung des alten Bürgerkriegsgenerals, mit der sich Dave immer noch unterhält.

Tavernier hatte schon 1981 einen Krimi von Jim Thompson verfilmt, nun pickt er sich für seine erste US-Produktion den Roman „Im Schatten der Mangroven“ mitten aus einer Serie des amerikanischen Kriminalautors James Lee Burke heraus. Eine gute Geschichte, die so stimmig rüber kommt, dass man sich vom ganzen Gesaufe leicht verkatert fühlt. Sehenswert wie bislang alles und alle im und vor den Kinos der Berlinale.