29.8.06

Thumbsucker


USA 2005
Regie: Mike Mills
Buch: Mike Mills
Darsteller: Lou Taylor Pucci, Tilda Swinton, Vincent D'Onofrio, Keanu Reeves, Benjamin Bratt, Kelli Garner, Vince Vaughn
Länge: 96 Min.
Verleih: Stardust
Kinostart: 5. Oktober 2006
 
Genial. Sensibel. Originell. Stimmig. Klug. Man weiß bei "Thumbsucker" gar nicht, wo mit dem Schwärmen anfangen und wo aufhören. "Der neue Film mit Keanu Reeves" wäre eine schöne Mogelzeile, denn der Star gibt eine witzige Nebenrolle.
 
Justin Cobb (Lou Pucci) ist Daumenlutscher, was vor allem den Vater (Vincent D'Onofrio) des 17-Jährigen wütend macht. Nicht nur wegen der hohen Rechnungen vom Zahnarzt Perry (Keanu Reeves). Doch gerade dieser sorgt für eine Wende in Justins Leben - unfreiwillig: Als esoterisch angehauchter Hobby-Psychologe hypnotisiert er den Jungen und prägt ihm ein, dass sein Daumen ab jetzt nach Echinacea schmeckt. Dadurch seines Halts und seelischen Ausgleichs beraubt, gerät der "Geheilte" völlig aus der Bahn. Als der wütende Justin Perry bei einem Radrennen zum Sturz bringt, schlägt eine völlig ignorante Lehrerin die Allheildroge Retalin vor. Justin hätte ja all die vagen Anzeichen für einen Konzentrationsmangel. Verzweifelt von seiner Orientierungslosigkeit - im Volksmund auch Pubertät genannt - stimmt der Junge überraschend zu und durchlebt eine radikale Wende. Als Klassenbester und Krawattenträger gewinnt er reihenweise Debatier-Wettbewerbe seiner Schule. Die Eltern erfüllt eine Mischung aus Stolz und sehr skeptischer Verwunderung. Die kurzzeitige Freundin, meint, er sei ein Monster. Irgendwann geht Perry auf, dass er nur durch eine Droge gepuscht wird, und er macht den fliegenden Wechsel zum Kiffen.
 
Der Kino-Erstling von Mike Mills, der bisher Videoclips für Moby und Air realisierte, ist eine kleine Sensation des amerikanischen Independent-Kinos. Ihn als Nachfolger von "Donnie Darko" hochzujubeln, wäre übertrieben. Doch "Thumbsucker" gehört zu den wenigen intelligenten Filmen über Jugendliche aus den USA, reiht sich ein bei Wes Andersons "Rushmore" und Todd Solondz "Willkommen im Puppenhaus". Ab und zu weht ein Hauch von Sofia Coppolas "Virgin Suicide" durch die Bilder. Gute Songs nehmen die heiter-melancholische Stimmung auf. In Berlin erhielt der 19-jährige Lou Taylor Pucci für seine Rolle als orientierungsloser Jugendlicher den Silbernen Bär für den besten Darsteller.
 
Vor allem überzeugt Autor Mike Mills mit seinen Figuren und ihren stimmigen Beziehungen untereinander. Man entdeckt und versteht sie allmählich, und wenn man meint, sie zu kennen, überraschen sie einen doch noch einmal. Vor allem Perry Mutter (Tilda Swinton) hat so etwas wie eine zweite Hauptrolle. Die Pflegerin schwärmt einem Soap-Star hinterher, der ausgerechnet in ihrer Reha-Klinik landet. Zweifel und Eifersucht entzweien Mutter und Sohn, die eigentlich auf der gleichen sensiblen Wellenlänge sind. Aber auch hier gibt es Klärung, denn jeder hat in "Thumbsucker" irgendwann einmal den großen Durchblick, "die" Erkenntnis - nur leider meist nicht über das eigene Leben. Oder hat der alberne Zahnarzt Perry das letzte Wort? "Das Geheimnis ist, dass dein Leben ohne Antworten funktioniert - vielleicht."
 
So ist "Thumbsucker" vor allem ein Film von und mit Tilda Swinton, die mit dem Schwangerschafts-Drama "Stephanie Daley" (2006) erneut als Produzentin einem Independent-Film das Qualitätssiegel verleiht. Nicht nur wer sich an ihre grandiosen Auftritte in "Caravaggio", "Edward II" oder "Orlando" erinnert wird sich "Thumbsucker" begeistert ansehen. Auch die Kinder dieser Kinogeneration können bedenkenlos mitkommen.
 
Günter H. Jekubzik