Zusammenbruch des Direktors Maire auf Piazza-Bühne
Locarno. Dramatisch endete das 59. Internationale Filmfestival von Locarno am Samstag nach zehn Tagen mit 170 Filmen: Am vorletzten Abend brach der Künstlerische Direktor Frédéric Maire auf der Bühne der Piazza Grande zusammen und sein Kreislauf erholte sich auch bis zur Preisverleihung nicht. Den Goldenen Leoparden erhielt ausgerechnet "Das Fräulein" von Andrea Slaka, eine ausgezeichnete Koproduktion (Schweiz/Deutschland), die zum aufsehenerregenden Rücktritt des Jurymitglieds Barbara Albert und zu viel Kritik an Maire führte.
Das renommierte Festival von Locarno erwies sich erneut als Sommerfrische für den deutschen Film. Während des Kino-Sommerloches konnten fünf Filme mit deutscher Beteiligung Hauptpreise absahnen. Fern von jedem Patriotismus ist dieser fast alljährlich wiederkehrende Goldregen bemerkenswert.
Der Siegerfilm "Das Fräulein" bringt drei Frauen jugoslawischer Herkunft in einer Züricher Kantine zusammen. Die junge Ana kommt gerade aus Sarajewo und stürzt sich exzessiv ins Leben, während die 50-jährige Kantinenbesitzerin Ruza jeden Rappen wie auch jede Regung fest verschließt. Wie diese stimmigen Figuren mit ihren eigenen Schmerzen aufeinander reagieren, hat die 33-jährige Andrea Staka in einer psychologisch dichten und ästhetisch fesselnden Weise inszeniert. Staka wurde in der Schweiz geboren, ihre Familie stammt aus Jugoslawien. Der Hauptpreis ist mit 90.000 Schweizer Franken (60.000 €) dotiert. Auch bei mehreren Nebenjuries erhielt "Das Fräulein" den ersten Preis.
Zuvor sorgte der Film bereit für große Aufregung, denn das österreichische Jurymitglied Barbara Albert ("Nordrand") musste die Jury ungeschickt spät verlassen, weil sie für alle bis auf Festivalleitung offensichtlich am Drehbuch mitgearbeitet hatte. Ob die Kritik daran zusammen mit kleinlichen Zänkereien der Schweizer Sprachgruppen zum Zusammenbruch des debütierenden Direktors Maire führte, bleibt vorerst Spekulation. Er wollte einiges ändern, etwa den Film der Politik vorziehen. Doch ironischerweise erwies sich erneut, dass Politisches bis in Private hinein reicht und so reichlich Stoff für bewegende, engagierte Filme liefert. So lief "Carlas List", die hautnahe Dokumentation über die schillernde Jugoslawien-Chefanklägerin Carla del Ponto, auf der Piazza und zum Abschluss musizierte "Das Orchester der Piazza Vittorio", ein römisches Multikulti-Projekt zur Integration von Emigranten. Filme, die Maire Vorgängerin Irene Bignardi sicher auch gezeigt hätte.
Das Publikum der Piazza Grande, des magischen Open Air-Kinos für allabendlich 7000 Zuschauer, wählte "Das Leben der Anderen" zu ihrem Favoriten. Die exzellente Demaskierung von Stasi-Mentalität erlebte mit reichlich Verspätung ihre internationale Premiere. "Der Mann von der Botschaft" von Dito Tsintsadze erhielt den Darstellerpreis. Genauer: Burghart Klaussner ("Die fetten Jahre sind vorbei", "Requiem") ist der einsame, verschlossene Mann von der (deutschen) Botschaft im georgischen Tiflis, der sich mit seltsamer Naivität eines Straßenkindes annimmt. Die ruhige Psychostudie wurde von Tatfilm in Köln produziert und von der Filmstiftung NRW gefördert. Ebenfalls aus Köln, ebenfalls NRW-gefördert, Stefan Westerwelles Abschlussfilm der KfM "Solange du hier bist", eine noch intimere, intensivere Studie eines alten Schwulen, der einem jungen Callboy hinterher träumt. Dafür gab es in der Kategorie des Besten Erstlingsfilms eine Besondere Erwähnung.
Den Goldenen Leoparden im neuen Wettbewerb der Sektion "Cineastes de Present" eroberte das SM-Drama "Verfolgt" von Angelina Maccarone, in dem Maren Kroymann eine resolute Bewährungshelferin spielt, die sich von einem Schützling zu sadomasochistischen Seitensprüngen verführen lässt. Knapp daneben ging der Preis für die Beste Darstellerin, denn Amber Tamblyn spielte eine 16-jährige Schwangere recht ausdruckslos, während ihre Filmpartnerin Tilda Swinton gleichzeitig die Konflikte einer Gerichts-Psychologin, einer psychisch labilen Schwangeren und einer eifersüchtigen Ehefrau eindrucksvoll verkörperte.
Die übertriebene Suche nach Weltpremieren bescherte Locarno 2006 einen merklich schwächeren Wettbewerb. Kleine Kurskorrekturen in den Programmsektionen im ersten Jahr des neuen Direktors Frédéric Maire ließen den ebenso politisch wie ästhetisch interessierten Charakter des Schweizer A-Festivals unberührt. Qualitäten eines neuen Leiters können sich erst nach mehr als einem Jahr zeigen. 2007 wird dann auch noch die 60. Auflage von Locarno gefeiert.