13.8.06
Der Lakomiker - Kaurism ä ki-Retrospektive Locarno
Locarno. Er ist der Meister der Reduktion, adelt die Arbeiterklasse mit dem Stil klassischer Melodrame und macht immer seinen letzten Film: Aki Kaurismäki wurde vom 59. Internationale Filmfestival Locarnos (2.-12.8.2006) mit einer kompletten filmhistorischen Retrospektive geehrt. Dank überraschender Mitarbeit des sonst so spröden Finnen wurde die Programmschiene zum sensationellen Publikumserfolg.
Wer meint, in weniger als 60 Minuten ist bei einem Film alles gesagt, muss sich vielleicht auch eine Retrospektive im zarten Alter von 50 Jahren und 16 Spielfilmen gefallen lassen. Kaurismäki ist im Reigen der ausgezeichneten Retrospektiven von Locarno ein Junger und gleichzeitig ein Relikt. Der Verächter von Fernsehen und amerikanischer Unkultur dreht nur auf 35mm-Film, niemals auf Video. Seine Filme stecken voller Zitate alter Meister und kaum ein Mensch hat noch das filmhistorische Wissen, diese Ebene zu verstehen. Selbst seinen Biographen Peter von Bagh erwischt er mit Fragen wie "Wer hat das eigentlich gesagt und in welchem Zusammenhang?" auf dem falschen Fuß.
Bei der Vorstellung eines von "Cahier de Cinemas" zur Retrospektive nur in Französisch herausgebrachten Bandes lieferte Kaurismäki trockene aber auch bissiger One-Liner am laufenden Band. Die übliche Weigerung auf - oft tatsächlich erschreckend dumme - Fragen zu antworten, hat er zuhause gelassen. Dabei ist, wie in seinen Filmen der Humor so trocken, dass man direkt glaubt, Laokoon war ein Finne. Mitgebracht hatte Kaurismäki außer seinen Langspielfilmen, auch seine Musikvideos von den "Leningrad Cowboys" und anderen finnischen Bands sowie seine Schauspielerinnen Kati Outinen und Margi Clark, die ausführlich erzählten. Zur Premieren-Party am Lido Locarnos unter passend kitschigem Vollmond spielte stilecht eine finnische Tango-Band.
Mit der sehr freien Dostojewski-Verfilmung "Crime and Punishment" legte Aki Kaurismäki 1983 direkt ein erstaunliches Debüt vor. Er wird auch noch Hamlet und "Das Leben der Boheme" seinen Stempel aufdrücken. Doch erst in späteren Werken, die er alle auch selbst produzierte, schrieb und schnitt, tauchten seine charakteristischen Eigenschaften auf der Leinwand auf: Extrem wortkarge Figuren, Verlierer der Arbeiterklasse meist, deren Niedergang manchmal auch von einem Happy End aufgefangen wird, aber deren Tragik nie ohne solidarischen Humor bleibt. Kaurismäki ist ein Meister der Ökonomie. Meist nimmt er seine Schauspieler schon während der Probe auf. Das Meisterwerk "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik" war 69 Minuten kurz, für das deutsche Fernsehen schummelte er ein paar Minuten hinzu. Hier zeigt sich auch der Produzent Kaurismäki, der mit seinem Bruder Mika - ein mediokrer Filmemacher - nicht nur eigene Filme finanziert.
Wieder das Gleiche - war in Cannes oft zu hören, als im Mai nach vier Jahren ein neuer Kaurismäki im Wettbewerb lief. "Lights in the Dusk" ist nach "Wolken ziehen vorüber" (1996) und "Der Mann ohne Vergangenheit" (2002) der abschließende Film seiner Verlierer-Trilogie. Wie sehr sich der Finne in Motiven und Stilideen treu blieb und wie verschieden er doch in seinen 23 Jahren Filmschaffen war, zeigte die komplette Kaurismäki-Retrospektive Locarnos auf. Ihr größter Gewinn liegt allerdings in einer "Carte Blanche" für den Regisseur, der sich Filme aussuchen durfte, die ihn beeinflusst haben.
Zum Kinostart von "Lights in the Dusk" im Herbst erscheint am 30.August auch ein deutscher Band, der unter dem Titel "Aki Kaurismäki" Essays, Interviews und Filmtexte versammelt (Beltz + Fischer, 220 Seiten, 19,90 Euro).