17.8.21

Der Masseur


Polen, BRD 2020 (Sniegu juz nigdy nie bedzie) Regie: Malgorzata Szumowska, mit Alec Utgoff, Maja Ostaszewska, Agata Kulesza, Weronika Rosati, 113 Min.

Seine magischen Hände bahnen ihm den Weg zur Arbeitsgenehmigung. Zhenia (Alec Utgoff, bekannt aus „Stranger Things" und „Jack Ryan: Shadow Recruit") marschiert durch eine Masse Wartender. Der Beamte, ein alter Herr mit Vampir-Ausstrahlung, meint den Antragsteller zu kennen. Dieser bietet kurz seine Hilfe beim deutlich steifen Nacken an, der Beamte entschlummert sanft, Zhenia stellt sich die Urkunde selbst aus.

Nun kann der Mann mit den weichen Zügen in einer „Gated Community", einer umzäunten und protzigen Villensiedlung seine Wunder vollbringen: Eine überforderte und betrogene Mutter, der krebskranke Naturheilmittel-Spinner, ein stahlharter Blauhelm-Militär und die Bulldoggen-Mama. Bei allen fast identischen Häusern erschallt die furchtbare Türklingel, Zhenia klappt seine Liege aus und die Menschen werden sich im Laufe der erstaunlich undramatischen Handlung traumhaft in einem hohen Wald wiederfinden. Das liegt nicht nur an der Hypnose, die der Masseur auf Nachfrage seinen vielen Fähigkeiten hinzufügt. Während die Kundinnen schlafen, schaut sich der gleichzeitig Naive und seiner Fähigkeiten Unbewusste in ihren Wohnungen um. Er kann Piano spielen, Ballett, und auch telekinetische Kräfte gehören zu seinen Talenten. Doch selbst wohnt Zhenia in einer Hochhaussiedlung.

Małgorzata Szumowska („Leben in mir", 2004), geboren 1973 in Krakau, ist eine der bedeutendsten europäischen Regisseurinnen der Gegenwart. Sie schuf ein ohne Drama enorm fesselndes Gesellschaftsporträt Polens. Das Psychogramm des Wohlstands hat kuriose Tati-Momente, wenn alle rauchen und überall lebens-gefährliche Hunde attackieren - „keine Angst, die wollen Sie nur begrüßen". Aber es liegt vor allem eine tiefe Traurigkeit auf dieser Siedlung, in der auch Erwachsene auf den seit Jahren ausbleibenden warten und die Kinder unbedingt Französisch sprechen sollen.

Dabei stammt der fremde Masseur mit dem eigenartigen Akzent selbst aus Tschernobyl. Er wurde sieben Jahre vor der Katastrophe geboren, genau am selben Tag. In seinen Erinnerungen kämpft die Mutter ums Überleben, durch die Bilder schweben Flocken, die kein Schnee sind. „Wie soll ich spüren eines fremden Landes Unbehagen, wenn ich mein eigenes schon nicht mehr seh?" wird einmal gesagt.

Wenn die Kamera grandios den Masseur und die Ehefrau des Massierten über eine Spiegelung zusammenbringt, ist das die kunstvolle Form des Offensichtlichen: Die meisten Frauen wollen mehr als körperliche und seelische Heilung von ihm. Eifersucht auf die anderen Kundinnen schwebt immer mit. Doch an solchen Banalitäten hält sich die seit langem von der Film- und Medienstiftung NRW geförderte Autorin und Regisseurin Małgorzata Szumowska nicht auf. „Der Masseur" ist ein faszinierendes modernes und magisches Märchen, poetisch mit tödlicher Drohung im Hintergrund.

Szumowskas Spielfilmdebüt „Happy Man" (2000) wurde in der Kategorie „Bester Nachwuchsfilm" für den Europäischen Filmpreis nominiert. Ihr zweiter Spielfilm „Leben in mir" (2004) wurde beim Sundance Film Festival und bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin präsentiert, für „33 Szenen aus dem Leben" (2008) erhielt sie den Sonderpreis der Jury auf dem Festival von Locarno. Es folgten die Langfilme „Das bessere Leben" (2011) mit Juliette Binoche und „Im Namen des ..." (2013), der auf der Berlinale mit dem Teddy Award gekürt wurde. 2015 kehrte sie mit „Body" nach Berlin zurück und gewann den Silbernen Bären für die beste Regie, 2018 folgte der Große Preis der Jury für „Die Maske". Ihr erster englischsprachiger Spielfilm „The Other Lamb" (2019) lief auf den Festivals in Toronto, San Sebastian und London. Zuletzt realisierte sie einen Kurzfilm für Miu Miu, der im Rahmen der Giornate degli Autori bei den Filmfestspielen Venedig 2020 gezeigt wurde.