BRD 2019 Regie: Bettina Böhler 130 Min. FSK ab 12
Im Oktober 2020 wäre der Ausnahme-Regisseur und Performer Christoph Schlingensief 60 geworden, am 21. August jährt sich sein Todestag zum 10. Male. Doch mehr als ein etwas konstruiertes Jubiläum ist eine einfache Tatsache Anlass und Erkenntnis der tollen und prallen Biografie von Bettina Böhler – Schlingensief fehlt!
Nach der Ablehnung durch die Film- und Fernsehhochschule München startete der Oberhausener Regisseur Christoph Schlingensief (geb. 1960) richtig durch, drehte früh mit Tilda Swinton und Udo Kier, sorgte für Provokationen auf allen Festivals und wechselte irgendwann zum Theater. Die Volksbühne wurde seine Heimat, Aufsehenerregendes inszenierte er überall. Die Containeraktion „Bitte liebt Österreich" (2000) ließ den rechten Mob Flüchtlinge „rauswählen". Sein „Parsifal" auf Wagners Hügel war ein großes Missverständnis, aber ließ sich auf der Volksbühne wieder direkt als „Kunst und Gemüse" mit Seitenhieben auf Katharina Wagner verwursten. „Das deutsche Kettensägenmassaker" machte im Film das Ost-West-Verhältnis zur blutigen Angelegenheit. Bei der „documenta" 1997 wurde er für den Slogan „Tötet Helmut Kohl!" festgenommen. „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" reflektierte sehr bewegend seine Krebserkrankung. Und am Ende entsteht seit 2009 in der Nähe der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou Schlingensiefs Vision eines Operndorfs in Afrika (siehe Sibylle Dahrendorfs Dokumentation „Knistern der Zeit"). „Sein" Deutscher Pavillon in Venedig wurde posthum mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Es fällt schwer zusammenzufassen, wie Christoph Schlingensief über Jahrzehnte unermüdlich den kulturellen und politischen Diskurs in Deutschland angefacht und aufgewühlt hat. Der Filmeditorin Bettina Böhler („Die innere Sicherheit", „Hannah Arendt"), die auch mit Schlingensief gearbeitet hat, gelingt dies jedoch in ihrer reichen Dokumentation „Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" hervorragend. Sie arbeitet nur mit Originalmaterialien, kein nachträglicher Kommentar, keine huldvollen Würdigungen. Aber genau das, die Bilder zahlloser Aktionen, Filme und Inszenierungen, Schlingensiefs eigene Gedanken, Anweisungen, Ideen und Zweifel machen die Kreativität dieses Querdenkers sicht- und spürbar. Kreativität und Aktionismus, der selbst bei Abneigung vieler Formen immer wieder exakt in Wunden deutscher Befindlichkeiten traf. So ist es kein Wunder, dass viele Interviews von Alexander Kluge in dieser eindrucksvollen Dokumentation auftauchen. Die Familienfilme, die der Apotheker-Sohn schon mit acht Jahren aufnahm und später immer wieder verwendete, runden diese unbedingt sehenswerte, faszinierende, belustigende, berührende und nachdenkenswerte Biografie ab.