10.8.20

Die Wege des Lebens - The Roads Not Taken


Großbritannien 2019 (The Roads Not Taken) Regie: Sally Potter, mit Javier Bardem, Elle Fanning, Branka Katic, Salma Hayek, Laura Linney 86 Min. FSK ab 0

Javier Bardem („Das Meer in mir") liegt regungslos im Bett. Es klingelt ununterbrochen. Am Telefon ist Tochter Molly (Elle Fanning) in Panik, während Leo (Bardem) nicht reagiert. Als sie die Tür zum kleinen New Yorker Apartment öffnet, kann sie langsam zum dementen Mann vordringen. Mit enormer Geduld und bewundernswürdiger Energie zieht sie den geistig Abwesenden an, heute geht es zu zwei Ärzten. Was Leo, der Schriftsteller, der die richtigen Worte nicht mehr findet, sagt, bleibt rätselhaft. Auch für die Zuschauer, die allerdings mehr und mehr Erinnerungsfragmente sehen und zusammensetzen können. Ein leidenschaftliches Drama um Leos Jugendliebe Dolores (Salma Hayek) in Mexiko. Und das etwas peinliche Anbaggern einer jungen Frau durch einen gebrochenen Leo, jetzt erbärmliches Schriftsteller-Klischee auf griechischer Insel. 

Sally Potter, die ausgezeichnete und renommierte Regisseurin von „Orlando" und „The Party", erlebte die Demenz bei einem jüngeren Bruder. Aus dem Rätseln, wo sich der Abwesende mit den nicht entschlüsselbaren Reaktionen wohl befindet, entstand das großartige Drama eines Tages „Die Wege des Lebens". Äußerst fesselnd und berührend ist dieser Versuch, innere Vorgänge auf die Leinwand zu bringen. Und die Emotion der verzweifelten Angehörigen. 

„Die Wege des Lebens" fließen als Erinnerungen an Frauen und Beziehungen durch den Film. Potter versucht, mit wechselnden Lautstärken und Bildausschnitten die Verwirrung nachfühlbar zu machen. In den parallelen Erinnerungen wechseln die Farben, wie die der Tapeten von rosa zu dreckigem Eierschalen-Gelb. Ein erneut absolut exzeptioneller Javier Bardem bleibt sich seltsamerweise über Jahrzehnte sehr ähnlich. Ein künstlerisches Konzept, auf zu viel Maske zu verzichten? Oder jemand, der sich in seiner Erinnerung gleich bleibt? 

Derweil versucht seine Tochter Molly mit enormer Geduld ein paar alltägliche Dinge erledigt zu bekommen. Das Unvermögen der Zahnärztin, einen Demenzkranken zu verstehen, ist schockierend. Aber auch Mollys Weigerung, den Gesundheitszustand zu benennen, irritiert. Nur Leos zweite, viel jüngere Ehefrau Rita (Laura Linney), die erfolgreichere Schriftstellerin, geht klar damit um. 

Sally Potter zeigte sich in ihrer reichen Karriere als intellektuelle, analytisch feministische und emotionale Regisseurin. „Die Wege des Lebens" (im Original „Roads not taken" nach einem Gedicht von Robert Frost) ist nun sehr berührend. Aber auch stilistisch faszinierend. Kamera, Schnitt und die auch von Potter geschriebene Musik des Films fügen sich perfekt ein in diesen in der Erinnerung zerstückelten, aber emotional sehr schlüssigen Lebensweg. Ästhetisch und psychologisch ein Meisterwerk.