USA 2019 (Ask Dr. Ruth) Regie: Ryan White 100 Min. FSK ab 6
Die Sexualtherapeutin „Dr. Ruth" Westheimer ist durch ihre Fernseh-Shows weltbekannt und selbst mit 92 Jahren noch quicklebendig. Wie die exzellente Biografie „Fragen Sie Dr. Ruth" ein Leben von Judenverfolgung in Frankfurt über Krieg in Palästina bis zu einer unglaublichen Karriere in New York aufzeigt, ist unbeschreiblich und unbedingt sehenswert.
Die ruhelose kleine Dame (1,45 Meter!) mit dem unverwechselbaren Lachen kennt wohl jeder aus den Medien. Gleich mehrere Generationen klärte sie nicht nur in den USA sexuell auf, machte weibliche Masturbation benennbar, befreite zahllose Menschen von der quälenden Angst, „nicht normal zu sein". „Normal" ist ein Wort, dass sie nicht mag! Neben der unverblümten Offenheit bei sexuellen Themen und anderen Lebensfragen, begeistert sie mit einem großen Interesse an Menschen. Dabei reicht die Spannweite von einem älteren Radio-Interviewer, der sich für Westheimers Hilfe bei seinem Coming Out bedankt, bis zum Kameramann, der bei der Feier zu ihrem 90. Geburtstag immer wieder von ihr selbst mit Leckereien vom Buffet gefüttert wird.
Neben vielen, vielen Momenten, die eine erstaunlich agile und empathische Person skizzieren, zeigt „Fragen Sie Dr. Ruth" auch chronologisch ein sehr bewegtes Leben. Die Kindheit des 1928 als Karola Ruth Siegel geborenen jüdischen Mädchens unter Nazis in Frankfurt am Main führt zur „Verschickung" in ein Schweizer Internat und zur Trennung von den Eltern, die sie nie wiedersehen wird. Dort durfte sie zwar nicht zur weiterführenden Schule gehen, aber ihr erster Freund, den sie in einer der rührenden Szenen des Films noch einmal besucht, erzählte ihr jeden Abend, was er gelernt hatte.
Diese von Westheimer erzählten und als Animation gezeigten Erinnerungen führen nach Palästina, wo sie im jüdischen Kampf um eigenes Land am Gewehr ausgebildet wird und bei einem Bombenangriff in Jerusalem schwer an beiden Beinen verletzt wird. Doch auch das konnte die umtriebige Frau nicht hindern, nach Paris zu ziehen und dann allein mit der gerade geborenen Tochter nach New York. Dieses Vorwärtsstreben, die (fast) völlige Abwesenheit von Trauer und Bedauern macht diesen Menschen und diesen Film so bemerkenswert. Die eigentliche, märchenhafte Karriere von „Dr. Ruth" wird fast unwichtig, auch wenn der Film sie mit vielen alten Aufnahmen nachzeichnet. Dabei erreichte ihre Show „Sexually Speaking" eine Popularität, die man in Deutschland vielleicht vom WDR-Nachttalker Domian kannte. Die Diskussion mit der inquisitorischen Enkelin, darüber dass „Omi" keine Feministin sein will, die ersten Reaktionen auf AIDS, die sie an den Antisemitismus in Deutschland erinnert haben, zeigt einen starken, eigenen Willen auf.
Dass diese filmische Biografie auch wegen der Fülle an Lebensereignissen nicht besonders investigativ hinter die Kulissen blickt, macht Westheimer selber am Ende klar: Auch wenn sie viel rede, sei sie eigentlich eine private Person. Sie würde nicht erzählen, wie viel Geld sie habe und mit wem sie ins Bett gehe! Von der ersten Szene, in der die kleine Person mit dem starken deutschen Akzent Amazons „Alexa" nach sich selbst fragt, ist „Fragen Sie Dr. Ruth" eine großartige, beglückende Dokumentation mit einem wunderbaren Menschen in der Hauptrolle.