22.6.11

Die Frau, die singt

Kanada, Frankreich 2009 (Incendies) Regie: Denis Villeneuve mit Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz 133 Min.

In Quebec wird das Testament einer Mutter eröffnet, die unüberhörbar verbittert gestorben ist. Es enthält zwei Aufgaben an ihre Kinder, die Zwillinge Simon und Jeanne. Der wütende Sohn soll seinen Bruder finden, die weinende Tochter ihren Vater. Dann würden sie einen weitern Brief erhalten. Der Bruder wehrt alle Wünsche ab, er will endlich Frieden haben und ein normales Leben. Für ihn war „die Kindheit ein Messer in der Kehle". Jeannes väterlicher Professor rät ihr mit dem Vokabular der reinen Mathematik zur Suche in Jordanien, ansonsten solle sie sich auf ihre Intuition verlassen.

Zusammen mit Jeanne erforscht der Film die Erinnerungen der Mutter Nawal an grausame Zwänge von Familienehre im Orient, an Brüder, die ihren Freund einfach erschießen, an das Weggeben ihres Sohnes direkt nach der Geburt. Die verständnisvolle Oma lässt Nawal weggehen und schickt sie zur Schule. Bei einem Onkel in der Stadt setzt sich die Christin für moslemische Flüchtlinge ein, während der Bürgerkrieg in den Siebzigern aufflammt. Ausgerechnet jetzt schlägt Nawal sich alleine durch besetzte und verwüstete Zonen, um ihren Sohn in einem Waisenhaus zu finden. Das religiös aufgeheizte Massakrieren, bei dem unter anderem Schergen mit einem Marienbildchen auf dem Maschinengewehr morden, lässt sie Rache schwören. Sie erschießt den politischen Führer der Christen. Deren Rache im Gefängnis ist brutal, nach vielen Vergewaltigungen wird sie schwanger und die Folterer warten mit der Freilassung, bis nach der Geburt. Trotzdem ist sie im ganzen Land bekannt als „die Frau die singt", weil sie niemals aufgab und immer sang.

Jeanne sucht die Orte auf, an denen ihre Mutter im gleichen Alter gelebt hat. Die Handlungen sind organisch miteinander verbunden. In warmen Farben, mit immer wieder zwischendurch sehr ruhig atmenden Momenten und dem Radiohead-Song „You and Whose Army?" fließt das schwer erschütternde Meisterwerk zwischen der Handlung und intensiven Porträts von Gesichtern, in langsamer Annäherung der Kamera vor unscharfem Hintergrund.

Dieser grandiose Film von Denis Villeneuve („Der 32. August auf Erden", 1998), der thematisch Julian Schnabels „Miral" ähnelt, basiert auf einem Theaterstück von Wajdi Mouawad, was man ihm jedoch niemals anmerkt. Er überzeugt durch eine packende Erzählung auf mehreren Ebenen, eine spannende Suche, durch dramatische persönliche Schicksale, die immer noch für viele Konflikte auf der ganzen Welt stehen. Ein bild- und ton-gewaltiges Drama mit einer Prise Humor und extrem guten Schauspielerinnen. Das Erkennen, wie sich eine Familie, die ein Volk gegenseitig auslöscht und quält, ist kaum zu ertragen. Wenngleich die Hoffnung auf das Recht - „das Notar-Wesen, das es zu Noahs Zeiten leider noch nicht gab" - sowie ein Ende des Kreislaufes aus Brudermord und Blutrache zu einem erstaunlich versöhnlichen Ende führt.