19.2.10

Berlinale 2010 Resümee Wettbewerb "Mammuth"

Stürzende Festivalgäste, abstürzende Eisschollen - die Vergletscherung Berlins sorgte im Februar 2010 dafür, dass bei den 60. Internationalen Filmfestspielen Berlins (11.-21.2.2010), die heute Abend mit der Preisvergabe beendet werden, vor dem Kino mehr Stürze, Unglücke und Dramen stattfanden als auf der Leinwand. Nach eindrucksvollem Start mit Polanski, Scorsese, Antikriegs-Schockern aus Japan („Caterpillar“) und einem raffinierten Depri-Trip von Thomas Vinterberg („Submarino“) lockerte der Winter seinen Griff. Die Qualität nutzte die Chance schmaler eisfreier Schneisen, um sich vom Eise zu machen. Qualität hatte in diesem Fall (und sonst meist auch) nichts mit an- oder abwesenden US-Stars zu tun. Sie können die Schoko-Streusel oder Sahnehäubchen auf dem Eisbecher Filmkultur sein. Ohne sie ging es aber auch ganz gut im Jahre 2010. Und mit ihnen hätte man Lücken im Programm nicht überspielen können. Ein unausgereiftes Gefängnisdrama aus Rumänien, eine dünne Emanzipationsgeschichte per Puzzlespiel aus Argentinien und der nur teilweise packende Polarpsycho „How I ended this summer“ hätte man sich sparen können. Zum Glück gab es noch so circa 100 andere Filme, die andere Perspektiven aufzeigten und vor allem in der deutschen Nachwuchsecke „Perspektiven“ viele tolle Entdeckungen, alle anderen abhängend der beste deutsche Film der Hauptsektionen, „Renn, wenn du kannst“ von Dietrich Brüggemann.

Frauen-Power
Während Frauen auf der Leinwand aus manchmal schwer erfindlichen Gründen sehr häufig bei eindeutigen Idioten, Betrügern, Schlägern oder religiösen Fanatikern blieben, sorgten Regisseurinnen für die Befreiung des Wettbewerbs aus seinem Mitwochen-Tief. Nicole Holofcener mit „Please Give“ ließ in ihrer Familienkomödie Catherine Keener, Amanda Peet und Oliver Platt viele Varianten des Geben und Nehmen durchspielen.
„Na putu“, das eindrucksvolle Comeback der Bären-Gewinnerin von 2007, Jasmila Zbanic, ist ein Favorit im Wettbewerb. „Esma Geheimnis“ war ihr Erstling und bestimmt von den Folgen der Jugoslawien-Kriege. Auch in „Na putu“ sind in Bosnien und Herzegowina immer noch die Folgen von Krieg und Vertreibung zu spüren. Doch wir erleben zuerst ein junges, modernes, verliebtes Paar. Luna ist Stewardess und Amar sitzt im Tower. Als er bei der Arbeit trinkt, suspendiert man ihn für sechs Monate und schickt ihn zur Entziehung. Zufällig trifft er einen ehemaligen Kriegskameraden. Bahrija trägt nun langen Bart, seine Frau ist verschleiert „wie ein Ninja“ und sie leben als konservative Wahhabiten. Unter deren Einfluss wandelt sich der lebenslustige Amar in einen bitteren Moralapostel, verachtet das Leben Lunas und ihrer bosnischen Familie. Obwohl sie ein Kind bekommen wollten, es sogar trotz der Fruchtbarkeits-Schwäche Amars künstlich zeugen wollten, bricht ihre Liebe durch seine radikale Hinwendung zum Religiösen auseinander.
Eine erschreckende Schilderung vom Wandel eines Menschen - und Teilen der Gesellschaft. Amar meint, die Moslems müssten viele Kinder zeugen, weil Allah es gebietet und weil man so gegen den serbischen Feind die Überhand gewinnen. Der aus ihrer Heimat vertriebene Bosnier vermengt in Sarajewo derart Islamismus und Nationalismus auf besonders perfide Weise. In der Kirche Bahrijas wird Moral gepredigt und Frauen der Schleier aufgezwungen, doch er selbst heiratet in Vielehe die 12-jährige Tochter seiner Frau.

Am anderen Ende der Moralvorstellungen siedelte Lisa Cholodenko ihre Familien-Komödie „The Kids are alright“ an: Julianne Moore,  Annette Bening,  Mark Ruffalo sind die Stars einer Familienkonstellation, in der zwei Lesben für ihre beiden Kinder Super-Moms sind. Bis die Teenager neugierig auf den Samenspender werden und ein ebenso cooler wie relaxter Restaurant-Chef auftaucht. Der fährt nicht nur Motorrad, was die alles kontrollierende Mom Nicole streng verbietet. Er verdreht sogar einer der beiden Lesben den Kopf und wirbelt die eigentlich ziemlich konservative Familie durcheinander.

Der doppelte Depardieu
Als letzter Starter schenkte „Mammuth“ von Benoit Delépine und Gustave de Kervern („Aaltra“) dem Festival das Vergnügen eines doppelten Depardieus. Nicht weil der gute Mann mittlerweile für zwei wiegt und sicherlich auch isst. Nein, neben dem Wettbewerbsfilm war er auch in dem wesentlich beschaulicheren „L’ autre Dumas“ zu sehen. Doch der Doppelungen nicht genug (und nicht weil man nach so vielen Filmen alles doppelt sieht): Auch sein Mitspieler Benoît Poelvoorde, der den Assistenten von Dumas spielt und Copyright für „Monte Christo“ und andere Werke beansprucht, taucht in „Mammuth“ wieder als Gegenspieler von Depardieu auf. Der belgische Schauspieler wird von dem Regie-Duo Delépine / de Kervern immer wieder besetzt, ebenso Yvonne Moreau („Louise hires a serial killer“) und Bouli Lanners aus Kelmis bei Aachen. Die „Mammuth“, ein bulliges Motorrad, begleitet Depardieu als simplen Rentner auf einem Roadmovie über Stationen seines Arbeitslebens - Rentenbürokratie sei Dank. Von absurdem Dada zu sanften impressionistischen Würdigungen des imposanten Körpers Depardieus reicht die Spannweite dieses ästhetisch spannendsten Films des Wettbewerbs. Der Film huldigt schon den Schauspiel-Gott, ein Darsteller-Bär ist er und man sollte ihm heute Abend auch einen überreichen.