USA 2012 (Life of Pi) Regie: Ang Lee mit Suraj Sharma, Irrfan Khan, Tabu, Rafe Spall, Gérard Depardieu 127 Min. FSK ab 12
Der junge Mann und das Meer ... und der Tiger. Ang Lee („Tiger & Dragon") erschafft in seiner Verfilmung von Yann Martels prämiertem Roman „Life of Pi" („Schiffbruch mit Tiger") atemberaubende Welten und (3D-)Visionen fast im Minutentakt. Die fantastisch fabulierende Geschichte ist nicht im Sinne von Hitchcocks „Rettungsboot" ein Kammerspiel mit Tiger, sondern erweitert den Raum in alle Richtungen und Dimensionen. Am Schluss sogar - etwas angepappt - in eine metaphysische.
Pi Patel wächst während der fünfziger Jahre in Pondicherry, der ehemaligen Hauptstadt Französisch-Indiens, im Zoo seiner Eltern auf. Er wurde Piscine genannt, nach einem Pariser Schwimmbad, doch das klingt zur Freude der spottenden Mitschüler genau wie das englische „Pissing". Da hilft auch nicht, dass er auf die Zahl Pi verweist. Erst als er diese mit ihren unendlichen Nachkomma-Stellen über mehrere Tafeln aus dem Kopf aufschreibt, hat Pi das fiese Missverständnis ausgewischt. Ein nicht nur kluger Junge, sondern einer, der Grenzen im Denken und Handeln überschreitet und die Welt erweitert. So wie es Ang Lee mit diesem Film, seinen Visionen und dem Einsatz von 3D dabei macht. Was auch immer an Sinn dahinter stecken möge (oder auch nicht), seine Art, Himmel, Universum, Wasser, Meer, Oberflächen und Tiefen, zu visualisieren, sind faszinierend mannigfaltig.
Man beginnt schon bei der Geschichte des katholischen Hindu aus dem französischen Teil Indiens, der sich sehr für den Islam interessiert, zu schwärmen. Doch es geht erst richtig los, als Pis Vater, ein fortgeschrittener Rationalist, wegen der Unruhen Familie und Tiere auf ein Schiff verlädt, um nach Kanada auszuwandern. Der japanische Frachter sinkt in einem gewaltigen und grandiosen (Bilder-) Sturm. Am Ende findet sich Pi (Suraj Sharma) in einem Rettungsbot mit einem Zebra, einer Hyäne, einem Orang-Utan-Weibchen und einer Ratte. Alle noch medikamentös halbbetäubt oder seekrank. Als auch ein Tiger heranschwimmt und den Kahn entert, entsteht so etwas wie dieses Gedankenspiel, in dem Wolf, Schaf und Schäfer übersetzen und überleben sollen, aber real und hochspannend. Auch dank 3D, das die Fangzähne ein paar mal verdammt schnell verdammt nahe kommen lässt.
Während der folgenden 227 Tage des Herumtreibens im offenen Meer reduziert sich das Drama natürlich auf das schwierige Miteinander von Mensch und Tiger. Das Erstaunliche an dem Jungen und dieser Geschichte zeigt sich in einem Moment, als Pi den Tiger ertrinken lassen könnte. Er holt ihn wieder ins Boot und hofft auf das Gute im Tier. Dafür muss der zusehends ausdörrende aber reifende Pi ingeniöse Konstruktionen ersinnen, treibt tagelang auf einer wackeligen Kunstinsel aus Rettungswesten, Paddel und Blechdosen zwischen Tiger, Haien, Walen und allen möglichen Fischen. Der Vegetarier opfert sogar seinen Zwieback, um Fisch zu fangen und den Tiger zu füttern. Wie schwer es ihm fällt, zeigt auch das Verblassen der Regenbogenfarben auf den Schuppen des ersten Fisches, den Pi tötet.
Doch bald leuchtet das ganze Meer fluoreszierend. Das Staunen über ein unglaubliches Miteinander wechselt sich rasant mit fantastischen Naturereignissen ab. Dieser Film ist wie eine von Pis Kindheitsgeschichten: Als der junger Krishna seinen Mund öffnet, um zu zeigen, dass er kein Essen geklaut hat, zeigt sich in diesem Mund ein ganzes Universum. Und der Film taucht erst spielerisch, dann eindrucksvoll tatsächlich in diese unendlichen Weiten ein.
Ang Lee, der taiwanesische Regisseur von „Brokeback Mountain", „Taking Woodstock", „Tiger & Dragon", „Der Eissturm", „Sinn und Sinnlichkeit" oder „Das Hochzeitsbankett" (unter anderen!) fügt seinem Renommee als Alleskönner eine weitere überraschende Facette hinzu: Selbst so ein technisch aufwändiges Trick-Biest wie „Life of Pi" zähmt er und verwandelt es in Momente reiner, unbeschreiblicher Bildpoesie und berührender Menschlichkeit.
Die Tricktechnik bringt nebenbei die immer am Boot hängende Frage „Was ist wahr?" auf eine zusätzliche Ebene, die sich allerdings mit der literatur-philosophischen ergänzt: Eine Rahmengeschichte des erwachsenen Pi bietet viele Jahre später eine Variante der Ereignisse ohne Tiere an, die er ungläubigen Vertretern der japanischen Reederei berichtete: Das grausame Drama, in der ein schmieriger Koch (Depardieu), erst einen Matrosen zu Fischköder zersägt und dann Pis Mutter umbringt, wird nur erzählt. Aus zwei Geschichten suche man sich halt die schönere aus, so sei es auch mit Gott, lautet die Pointe. Damit gewinnt man keinen Philosophen-Preis, selbst als Aphorismus klingt das kläglich. Aber die Bilder, die sind göttlich!