Ein Meisterwerk? Es war auf jeden Fall nicht nur ein Meister am Werke bei Paul Thomas Andersons „The Master" im Wettbewerb der 69. Mostra von Venedig. Der Regisseur, der seinen ersten Film nach „There Will Be Blood" vor fünf Jahren abliefert. Auch mit „Punch-Drunk Love" (2002), „Magnolia" (1999) und „Boogie Nights" (1997) hatte er es nicht wahnsinnig eilig. Trotzdem wird der Kalifornier zu den besten Regisseuren überhaupt gezählt, was auch jetzt wieder Bilder, Szenen und Stimmungen belegen. Zudem dreht sich der Film um eine seltsame Beziehung zwischen einem spirituellen Führer - oder Scharlatan? - und einen kaum zähmbaren Trinker und Choleriker. Also Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix, der von einer vierjährigen, selbst auferlegten Drehpause zurückkehrt.
Das erste Lob für „The Master" ist, dass man ihn nicht mal schnell in einem Blog abfeiern kann. Gut, wenn eine Menge sehr kreativer und intelligenter Menschen Monate und Jahre ihrer Lebenszeit in etwas stecken und es nicht in ein paar Sätzen - auf dem Weg zum nächsten Festivalfilm - zu fassen ist.
Joaquin Phoenix ist der rastlose Freddie Quell, 1950 mit nervösen Störungen aus der Navy entlassen. Liegt es an den „Japsen", die er umgebracht hat? Oder an den Drinks, die er sich immer und aus allem Möglichen, sogar aus Torpedo-Brennstoff, zusammen mixt? Egal, denn Freddie gehört zu den Menschen, die sich darüber keine Gedanken machen. Rasch rafft der Film ein paar Stationen des lüsternen Säufers zusammen, bis er eher aus Versehen auf dem Schiff von Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman) landet. Der Autor und Sekten-Führer nimmt den wilden Streuner wie einen Sohn auf, denn Freddie ist „der mutigste Junge, den er je gesehen hat". Neben den Drinks des immer Betrunkenen geht es dem freigiebigen, freundlichen und sympathischen Mann auch um die Zähmung seines neuen, ihn stimulierenden Protegés. Freddie wird in psychoanalytischen Sitzungen und Rückführungen in vergangene Leben zum Versuchskaninchen, bleibt aber ein Schoßhündchen mit Tollwut. Bei der Entourage vom „Master", bei Frau, Tochter, Sohn und Schwiegersohn, ist der ungebildete Neue nicht gut gelitten. Vor allem weil er, immer wenn die Methode des Meisters angefeindet wird, einfach mal losprügelt. Dabei will die Gemeinschaft mit dem Namen „Cause" (Ursache) doch gerade durch Überwindung der Traumata aus früheren Leben solche „Millionen Jahre alten" Verhaltenweisen hinter sich lassen. Aber Dodd hält zu seinem Quell und in seinem bald veröffentlichten zweiten Buch kommt der Begriff „Quelle" auffällig häufig vor - ein sinnreiches Wortspiel, das im amerikanischen Original nicht ganz so offensichtlich ist...
Der lang erwartete neue Film von P.T. Anderson ist großes, intensives Kino. Gedreht im königlichen 70mm-Format, für das sich wohl kaum noch ideale Abspielkinos finden lassen. „The Master" ist außerdem keine Abrechnung mit den Scientologen oder die Demontage eines Sekten-Führers. Dodds Ideen, etwa dass Nackenschmerzen von Verletzungen aus früheren Leben stammen können, haben mehr Gewicht als die engstirnigen Vorwürfe seiner Gegner. Philip Seymour Hoffmans Figur ist vor allem in der Beziehung zu Freddie tragisch (und wie immer ein Schauspiel-Leckerbissen). Freddie hingegen wird von Joaquin Phoenix mit Hasenscharte, schiefem Mund und krummen Rücken so kraftvoll deformiert gegeben, dass diese Nummer ein weiterer Grund ist, „The Master" noch mal zu sehen. Neben dem durchgehend unterliegenden, mal irritierenden, mal in Schwebezustände versetzenden Score von Jonny Greenwood und den Bildern von Mihai Malaimare Jr.
Wieso bei Dobbs Methode aus dem „recall" (erinnern) ein kreatives „imagine" (sich vorstellen) wird, kann man sich dann in Ruhe überlegen. Auch, ob an der herrlichen Geschichte des beleidigten Masters, er und Freddie hätten einst in einem von den Preußen belagerten Paris erfolgreich Postballon verschickt, etwas dran ist. Pur genießen kann man Dobbs Abschiedslied für seinen Seemann, „I'd love to get you on a slow boat to China, All to myself alone"...