4.9.12

Venedig 2012 Halbzeit

Voll gutes Programm, noch Platz im Saal

Venedig. In Venedig heißen die Filmfestspiele „Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica" und dieser kleine Unterschied trifft 2012 tatsächlich zu: Man fühlt sich wirklich wie auf einer Leistungsschau des internationalen Arthouse-Kinos und nicht in einem dieser anderen Wettbewerbe, wo man wie Aschenputtel die Guten und die Schlechten selbst aussortieren muss. Hier, bei der 69. Mostra wurde vorsortiert und das richtig gut. Zur Halbzeit des Wettbewerbs, der am Samstag mit der Verleihung des Goldenen Löwen endet, wird ein Feuerwerk großer Namen und Werke abgefackelt.

Obwohl das mit dem Löwen gar nicht mehr so sicher scheint: Ein unbedarfter Besucher auf dem Lido Venedigs würde felsenfest - oder hier: sandbankfest - behaupten, das Nashorn sei Wappentier des Festivals. Es thront mitten in der Baubrache vor dem Festivalpalast als Reittier für Kinder. Auf Plakaten und im Festival-Vorspann teilt es sich ein Boot mit einem kleinen Anglerjungen. Und es passt eigentlich auch ganz zum ältesten Filmfestival der Welt, das sich nur langsam bewegt, aber immer mal wieder gewaltig zusticht, wenn es in Fahrt kommt.

Olivier Assayas, Terrence Malick, Paul Thomas Anderson, Takeshi Kitano, Susanne Bier, Kim Ki-Duk - ein Festival der großen Namen, die nie ganz das Erwartete liefern - dann wäre es ja auch vorhersehbar und langweilig. Thema Leitmotivisch hatte der Eröffnungsfilm „The reluctant fundamentalist" das Thema vorgegeben: Fast alle Figuren auf der Leinwand leben so, wie andere von ihnen erwarten. Die Befreiung davon ist mal Coming Out und Happy End wie in Biers Komödie „Love is all you need". Mal eine Explosion der Gewalt wie in „The Iceman".

Am Montag bekam die schöne Revolutions-Romantik „Apres mai" von Olivier Assayas mit „Disconnect" von Henry-Alex Rubin (außer Konkurrenz) einen reizvollen Gegenpart zur „Jugend von heute". Während Assayas 1971 außerhalb von Paris junge Studenten zeigt, die sich politisch engagieren, von Spezialeinheiten der Polizei in Straßenschlachten brutal zusammengeschlagen werden, findet heutzutage alles im Internet statt. Mobbing, Verführung, Betrug, aber auch Trost und Verständnis. „Ich rede mehr per SMS mit dir als persönlich" - dieser Satz zwischen Eltern eines stillen Außenseiters, der sich umbringen wollte, ist symptomatisch für die - selbstverständlich - vernetzten Geschichten von heute. Früher sah man die Jugendlichen (bei Assayas) viel Lesen, Malen, Reden und Revoluzen. War ja genug Zeit da, ohne Internet. Die entscheidende Frage blieb aber gleich: Was willst du mit deinem Leben anfangen?

Filme anschauen wollen vielleicht nicht mehr so viele. Öfter mal blieben einige Plätze in den Kinos leer. Sicherlich eine erste Folge der milliardenfachen Umverteilung vom Volk (-shaushalt) zu den Banken. So können sich Branchenvertreter aus Italien, Spanien oder Griechenland den schamlos überteuerten Lido nicht mehr leisten. Über die „Jugend von heute" braucht man sich nicht zu ärgern - sie ist auch gar nicht erst da. Ein generelles Problem von Filmfestivals.

Favorit Kim Ki-Duk
Den längsten Applaus in den Pressevorführungen erntete bislang Kim Ki-Duk ("Frühling, Sommer ....", "Bin-Jip") bei seinem Comeback nach jahrelanger Festivalabwesenheit und seinem ergreifenden Depressionsfilm "Arirang". Der Titel seines 18. Werkes "Pietà" klingt nach einem dieser quasi-religiösen Themen, die der Wettbewerb auffallend oft präsentiert. Doch die Geschichte um einen kleinen gemeinen, eiskalt sadistischen Kredithai, der verschuldete Handwerker mit ihren eigenen Maschinen verkrüppelt, um deren Versicherungssumme zu kassieren, ist eine besonders raffinierte Form von Schuld und Sühne. Denn als die Mutter des Sadisten, die er nie kannte, auftaucht, wird er ganz schnell weich. Die vermeintliche Mutterliebe nimmt extreme, ja sogar perverse Formen an, wobei sich der Begriff Pieta umstülpt. Mitleid wird zur Rache und alles hängt am Geld. Zwischen Genre und Gesellschaftsanalyse ist der Koreaner ganz nah beim Österreicher Seidl mit seinem "Paradies: Glaube".

Der zeigte sehr raffiniert vielschichtig Glaubens-, Geschlechter- und Ehe-Krieg in einer peinlich aufgeräumten Österreicher Wohnung. Aber auch Flagellation gegen die Fleischeslust vor dem Kreuz und Masturbation mit demselben! Beim Glauben kennt Seidl, der selbst eine harte religiöse Erziehung durchleben musste, sich aus. Ein doppelbödiges Vergnügen, ein Gewinn im Wettbewerb. Die Produzenten wollen den dritten Teil der „Paradies"-Trilogie bei der Berlinale platzieren.

Die auf wenige, übersichtliche Reihen konzentrierte Mostra bleibt derweil ein idealer Ort für Austausch und Diskussion. Da braucht es nicht solcher Mätzchen wie das Online-Streaming der Orrizonti-Filme.