30.8.12

Venedig 2012 Paradies Glaube

Mehr als Skandal: Das Kreuz mit der Religion

Österreicher Ulrich Seidl glaubt an die Provokation

Venedig. Jedes Festival braucht seinen Skandal und wohl dem, der einen Ulrich Seidl-Film im Wettbewerb hat: Nach dem eindimensionalen Trilogie-Auftakt über karibische Callboys mit „Paradies: Liebe" in Cannes, zeigt „Paradies: Glaube" - Gott, sei Dank! - in Venedig sehr raffiniert vielschichtig Glaubens-, Geschlechter- und Ehe-Krieg in einer peinlich aufgeräumten Österreicher Wohnung. Aber auch Flagellation gegen die Fleischeslust vor dem Kreuz und Masturbation mit demselben! Die Produzenten wollen den dritten Teil über Diäten-Wahn bei der Berlinale platzieren.

Anna Maria (Maria Hofstätter) ist nicht nur gläubig, sie liebt ihren Jesus - weil er doch so gut aussieht - bis zum Gutenachtkuss. In den Ferien bleibt sie zuhause und zieht mit ihrer Wander-Madonna durch die Häuser, um mit den Menschen zu beten. Regelmäßig wie ihr ganzes aufgeräumtes Leben ist, trifft sich die Gebetsgruppe Legio Herz Jesus bei Anna Maria. Als „Sturmtruppen und Speerspitze des Glaubens" schwören sie, dass Österreich wieder katholisch wird. Klingt fundamentalistisch faschistisch und nach leichtem Fressen für Religionskritiker. Doch dieses einfache Glaubens-Opfer nimmt Regisseur Seidl („Import/Export", 2007; „Jesus, Du weißt", 2003; „Tierische Liebe", 1996) nicht an. Er bringt der Anna Maria nach zwei Jahren wieder ihren Ehemann ins Haus: Den querschnittsgelähmten Moslem Nabil, der bald weinerlich um etwas Sex bettelt. Nun ist die extremistisch Gläubige nicht nur im Konflikt zwischen zwei Männern - Jesus und Nabil. Auch Barmherzigkeit und Keuschheit kämpfen unter ihren Brüsten. Obwohl die Mischung aus Vorwürfen und Jämmerlichkeit schwer erträglich ist, bleibt Trennung undenkbar: „In allen Religionen ist es deine Pflicht, für mich zu sorgen", weiß Nabil. Leider steht seine Macho-Position auf schwachen Beinen, um es im provokant direkten Stile Seidls zu sagen. Mitleid für einen impotenten Behinderten, der doch noch die Vergewaltigung versucht? Bewunderung für die Standfestigkeit einer völlig durchgeknallten religiösen Eiferin? Nein, der oft halb-dokumentarisch arbeitende Seidl stellt nicht einfach nur bloß in seinen, passend zum Ordnungswahn Annas streng symmetrischen Bildern. Wenn die Katholikin mit dem Moslem nach vielen kindischen Gemeinheiten raufend am Boden liegt, kann man nicht mehr auseinanderhalten, ob es hier um Religionen, Geschlechter oder In- und Ausländer geht. So wie der Name Anna lässt sich der Film von allen Seiten lesen. Dabei sorgten die skurrilen extremistischen Handlungen der penetranten Missionarin immer wieder für große Heiterkeit. Beim Glauben kennt Seidl, der selbst eine harte religiöse Erziehung durchleben musste, sich aus. Ein doppelbödiges Vergnügen, ein Gewinn im Wettbewerb. Das Urteil des Kollegen vom Osservatore Romano steht allerdings noch aus, hoffentlich muss der vatikanische Kritiker nicht unter Protest seine Badehose einpacken und zurück in den Schoß der Kirche.