Frankreich 2021 (L'événement) Regie: Audrey Diwan, mit Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Sandrine Bonnaire, 100 Min., FSK: ab 12
„Das Ereignis" erhielt beim Filmfestival von Venedig 2021 den Goldenen Löwen als „Bester Film", gegen eine Konkurrenz von Regisseuren wie Paolo Sorrentino und Pedro Almodóvar. Das erschütternde Drama nach dem gleichnamigen autobiographischen Buch von Annie Ernaux erzählt eine eigentlich „alte Geschichte". Die in einer Zeit, in der das Recht auf die weibliche Selbstbestimmung selbst innerhalb von Europa und Amerika wieder zurückgenommen wird, erneut furchtbar aktuell wird.
Anne (Anamaria Vartolomei) ist exzellente Literaturstudentin, eine starke junge Frau, die weiß, was sie will. Es ist das Jahr 1963 in Frankreich, Studentinnen leben im eigenen Wohnheim. Das andere Geschlecht reizt bei Tanzabenden, doch über den Begegnungen schwebt die Angst vor dem Unausgesprochenen. Dann erwischt es auch Anne: Im Heißhunger klaut sie Essen im Kühlschrank von anderen Kommilitoninnen - klares Anzeichen einer Schwangerschaft! Die junge Frau will unbedingt ihr Leben und ihr Studium weiterführen. Aber Schwangerschaftsabbruch wird mit Gefängnisstrafe für das Opfer und den Arzt bedroht. Aus Äußerungen ihrer Umgebung merkt sie schnell, dass sie mit der Situation allein zurechtkommen muss.
Während der Film die Wochen der fortschreitenden Schwangerschaft einblendet, versucht es Anne verzweifelt mit Selbstmedikation, drängt ihren fürsorglichen, aber ängstlichen Gynäkologen auf Kontakt zu einem anderen Kollegen. Der wird allerdings ein Mittel verschreiben, dass die Schwangerschaft nicht abbricht, sondern fördert. Eine schockierende Entdeckung, die zeigt, wie wenig Frauen das Recht auf Selbstbestimmung bei ihrem eigenen Körper zugesprochen wird.
Regisseurin Audrey Diwan inszeniert „Das Ereignis" geschickt: Beim Verzicht auf allzu viel Altmodisches und bei Annes selbstbewusster Haltung lässt sich vergessen, dass die Handlung mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Tatsächlich ist das Thema Abtreibung nach Jahrzehnten Kampf um Frauenrechte wieder erschreckend aktuell. In Polen werden die Uhren zurückgedreht, in den USA Gynäkologen bedroht, in Deutschland ist das absurde „Werbeverbot" immer noch Gesetz - um nur ein paar der neuen frauenfeindlichen Entwicklungen anzuführen.
Der sehr bewegende Film erspart nichts von Annes Leiden an der furchtbaren Situation. Selbst der Besuch bei einer Frau, die illegal Abtreibungen macht, ist erst nicht erfolgreich. Dabei verlässt sich „Das Ereignis" ganz und ruhig auf das inhärente Drama der Geschichte, die Filmmusik setzt nur leicht gezupfte Akzente. Das funktioniert vortrefflich und preiswürdig durch das intensive Spiel von Anamaria Vartolomei, eine tolle Entdeckung. Die Rumänin gab ihr Schauspieldebüt 2011 als Zehnjährige in „I'm Not a F**king Princess" neben Isabelle Huppert. Im Historien-Film „Ein königlicher Tausch" (Originaltitel: L'échange des princesses, 2017) fiel sie als 12-jährige Tochter des französischen Regenten auf. Diese Louise Élisabeth d'Orléans heiratete in einem politischen Arrangement den 14-jährigen spanischen Thronfolger Ludwig. Für die Rolle der Anne in „Das Ereignis" gewann sie einen Prix Lumière als Beste Darstellerin sowie den César als Beste Nachwuchsdarstellerin.