19.3.22

Come on, Come on


USA 2021 (C'Mon C'Mon) Regie: Mike Mills, mit Joaquin Phoenix, Woody Norman, Gaby Hoffmann, 114 Min., FSK: ab 6

Regisseur Mike Mills („Jahrhundertfrauen") berührt und begeistert erneut mit einem ungemein sensiblen Meisterwerk über einen Journalisten, der sich überraschend um seinen neunjährigen Neffen kümmern muss. Neben Joaquin Phoenix begeistert der junge Woody Norman als sehr aufgewecktes Kind.

Der New Yorker Radiomoderator Johnny (Joaquin Phoenix) interviewt Kinder zu ihren Träumen, Ängsten und Hoffnungen. Er hat beruflich also viele Erfahrungen und Kontakte mit Kindern und Jugendlichen. Doch ein unerwarteter Anruf von seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann), die in Los Angeles nicht nur räumlich sehr entfernt lebt, zwingt ihn zu einem Schnellkursus in Leben mit Kindern. Denn Viv will sich um ihren bipolaren Partner kümmern. Und lässt Johnny ganz schnell mit ihrem Sohn Jesse (Woody Norman) allein. Es ist das erste Mal, dass der frisch getrennte Single Johnny für ein Kind verantwortlich ist - und das erste Mal, dass Jessy längere Zeit von seiner Mutter getrennt ist.

Der oft verschlossene, einsame und auch manchmal seltsame Mann, der sich umständehalber um ein Kind kümmern muss und dabei zum offeneren Menschen wird ... das Klischee gibt es bei Mike Mills nicht. Der 1966 geborene Kreative, der Musikvideos für Künstler wie Moby, Yoko Ono und Air gedreht hat, zeigte in seinen Filmen „Jahrhundertfrauen" (2016), „Beginners" (2010) und „Thumbsucker" (mit Keanu Reeves, 2005) immer Familien anderer Art und vor allem auf andere Art und Weise: Wenn Filme ansonsten unter die Haut gehen, tief in die Seele und auf Gefühle blicken, geht Mills noch ein paar Lagen tiefer. Ganz wie Jesse in „Come on, Come on" immer wieder oberflächliches Gerede oder ausweichende Antworten abkanzelt: „Blabla, Blabla...". Mills ist mit der Künstlerin und Filmemacherin Miranda July verheiratet. Er hat einen Sohn, der große Inspiration für „Come on, Come on" war.

Nach ein paar Tagen in Los Angeles, in denen der hyperaktive Jesse Johnny enorm fordert, lädt der Journalist den Jungen zu sich und seiner Arbeit nach New York ein. Eine geniale Beschäftigungs-Idee ist, Jesse das Aufnahme-Equipment zu geben und so die Welt anders erleben zu lassen. Auf Spaziergängen am Strand von Santa Monica und in New York hört das sehr aufgeweckte und extrem neugierige Kind zu. Zuhören ist generell ein großes Thema in „Come on, Come on", denn Johnny und Jesse kommen sich vor allem in Gesprächen näher. Gespräche, die auch versuchen, den impulsiven, manchmal verängstigten, manchmal besorgten Jungen einen Umgang mit den eigenen Gefühlen zu vermitteln. Gespräche mit einer intensiven Offenheit, die man selten im Film erlebt.

Die Jagd auf Klänge mit großem Mikrophon und Kopfhörern erinnert zwar an „Lisbon Story" von Wim Wenders (mit Rüdiger Vogler als Philip Winter), doch Mike Mills erzählt von einer anderen Inspiration durch den deutschen Regisseur: „Schon früh dachte ich an ‚Come on, Come on' als eine Art Blues-Riff auf ‚Alice in den Städten', sagt Mills, „denn wie Wenders wollte ich eine Kinderfigur zeigen, die ein Wesen mit Willenskraft, Sorgen, Wünschen und Ängsten ist, die die gleiche Berechtigung haben wie die Gefühle eines Erwachsenen." In „Alice in den Städten" reist der deutsche Journalist Philip Winter (Rüdiger Vogler) mit einem jungen Mädchen durch die USA, nachdem dessen Mutter nicht auftaucht.

Wie oft bei Wenders wird auch „Come on, Come on" zu einem Roadtrip, als Johnny für seine Interviews nach New Orleans muss. Begleitet wird er dabei von Kollegin Roxanne. Die Schauspielerin Molly Webster ist im wirklichen Leben Senior Correspondent für das New Yorker Radio Lab, also eine echte Vertreterin dieser faszinierenden Arbeit, Kindern eine Stimme zu geben.

Joaquin Phoenix spielt angenehmerweise mal keinen extremen Charakter wie den „Joker". Doch der wahre Star in  „Come on, Come on" ist Woody Norman als Jesse: Mit großen, wachen Augen saugt er alle Aufmerksamkeit und Energie aus seiner Umgebung auf. Das Ergebnis dieses immer emotionaleren Zusammentreffens ist ohne künstliche Dramatik packend und berührend. Mills sagt dazu: „Unsere kleine, intime Geschichte spielt sich im Kontext einer viel Größeren ab. Dieses Spektrum spüre ich oft auch bei meinem Kind. Unsere gemeinsame Zeit ist intim und privat, und doch geht es um die großen Themen des Lebens."

Die Schwarzweiß-Kamera von Robbie Ryan liefert ganz wunderbare Bilder aus Los Angeles, New York und New Orleans. „Schwarzweiß funktioniert für beides. Es ist intim, lässt aber auch mehr Spielraum, holt die Figuren aus der Zeit heraus, distanziert uns vom Alltag und macht die Bilder fast zu Zeichnungen," sagt der Regisseur. 

Der Soundtrack liefert einen lebendigen Mix, während der Score aus Synthesizern und Klarinette von den Zwillingsbrüdern Aaron und Bryce Dessner zurückhaltend komponiert wurde. Die Gründer der Rockband „The National" haben schon mit Mills an einem 25-minütigen Film zur Musik ihres Albums „I Am Easy to Find" zusammengearbeitet.

Die eingeblendeten Titel der Bücher, die Jesse vorgelesen werden, sind Empfehlungen und Fußnoten zum Film. Das unübersehbare Riesen-Poster mit dem Schriftzug Rousseau über dem Bett, weist zwar auf den großen Pädagogen („Emile oder Von der Erziehung") hin, doch „Come on, Come on" folgt weder dem Franzosen noch reibt er sich an dessen Theorien.