2.11.13

Das Himbeerreich (Bühne)

Aachen. Am Anfang war das Wort. Eine ganze Menge Wort, nämlich mehr als 1500 Seiten Protokoll, die der Bühnen-Autor und Dokumentarfilmer Andres Veiel („Black Box BRD", „Der Kick") bei Gesprächen mit 25 deutschen Spitzenbankern protokollierte und dann vernichtete, nachdem er daraus sein Bühnenstück „Das Himbeerreich" destillierte. Der in vieler Hinsicht erstaunlichen Aachener Aufführung, die am Donnerstag in der Kammer Premiere feierte und langen Applaus erhielt, gelingt es, dem sperrigen Thema Bankenkrise und den mehr als öffentlichkeitsscheuen Psychen dieser Entscheider Leben einzuhauchen.

Aus den Interviewten wurden nach der Komprimierung, die Unkenntlichkeit garantieren sollte und jegliche Haftung für das (aus-) gesprochene Wort ausschloss, auf der Bühne fünf Figuren plus Chauffeur: Der als Aussteiger besonders kritische Gottfried W. Kastein (Tim Knapper). Niki Modersohn (Benedikt Voellmy) glaubt auch als Verlierer und Blitzableiter der anderen weiter an das System. Bertram Ansberger (Karsten Meyer), der vergebens Einspruch einlegte, als sich die Deutsche Bank mit Rückendeckung der Regierung in einer offensichtlich unsinnigen Aktion in eine milliardenschwere Katastrophe manövrierte. Dr. Dr. hc Walter K. von Hirschstein (Torsten Borm) steht scheinbar souverän über allem, muss aber alle paar Minuten sein Glas (und sein Gewissen?) mit einem Weinchen zukippen. Wirklich unberührt von allem zieht Dr. Brigitte Manzinger (Katja Zinsmeister) die eiskalte Königin im Spiel um die Milliarden europäischer Bürger ihr Ding durch und genießt das „Torpedo-Gefühl", wenn der 250 Mio.-Deal klappt. Der seit Jahrzehnten diensteifrige Chauffeur Hans Helmut Hinz (Rainer Krause) kommentiert, erklärt die finanztechnischen Fachbegriffe, mit denen die Banker ihre verantwortungslosen Zockereien verschleiern, und spult auch schon mal in einem der Slapstick-Momente die ganze Gesellschaft per Fernbedienung zurück, wenn der Bank-Sprech sich in Hintergrund-Rauschen zu verselbständigen droht.

Ja, es ist durchaus süßlich und komisch, das Aachener „Himbeerreich". Aber es riecht auch angekokelt, genau wie die Konsumgüter, die sich RAF-Terroristin Gudrun Ensslin aus dem vorher selbst angeschmorten KaDeWe wünschte. Sie schuf den Begriff „Himbeerreich" für die satte Konsumwelt BRD. Veiel selbst leuchtete mit seiner außerordentlichen Dokumentation „Black Box BRD" das Aufeinandertreffen von RAF und Bankern aus. Ein paar Umdrehungen der Weltgeschichte weiter schreiben wir das postdemokratische Zeitalter, Demokratien und Regierungen werden von Banken gesteuert. Dass man die faulen Kredite der Bad Banks, auf der Bühne des Theater Aachen in eine bedenklich qualmende Kiste mit Beilage einer toten Ratte gepackt, förmlich riechen kann, ist auch so eine gelungene Sinnlichmachung von äußerst schwer Fassbarem. Durch derartige Inszenierungs-Ideen gewinnt und gelingt das Stück im Gegensatz zu Veiels eigenen Inszenierungen zu Anfang des Jahres beim Stuttgarter Staatsschauspiel und dem Deutschen Theater in Berlin.

Das „Himbeerreich" von Regisseurin Bernadette Sonnenbichler (zuletzt in Aachen mit „Woyzeck", „Der gute Mensch von Sezuan") und Dramaturgin Caroline Schlockwerder bereitet auch angesichts der Aussagen, dass selbst der Intendant den Stoff für unspielbar hielt, einen erstaunlichen Abend. So wünschte man sich in den eindrucksvollsten Momenten, in denen Bilder, Körper, Sprache, Rhythmen, Texte und Gedanken ein faszinierendes Eigenes formten, das Ganze auf größerer Bühne mit mehr Vorbereitungszeit und breiterem Etat. Doch - auch das zeigt „Himbeerreich" sehr plastisch: Die ganz kleine Handvoll Reis, die dem Theater-Etat von 19 Mio. Euro entspricht, wirkt lächerlich oder empörend verschwindend gegenüber dem Berg von Reis, den die 60.000.000.000 Euro (60 Millarden) darstellen, die Bankern hinterher geschmissen wurden. Und weiter werden.

Das gerade auf deutschen Bühnen angesagte Stück wurde zwar mit Einverständnis Veiels, aber ganz klar gegen den Autor inszeniert. Zum Glück! Denn während Veiels „Der Kick" über mordende Neonazis einst gefeiert wurde, bekam „Das Himbeerreich" meist schlechte Kritiken, beklagt wurde etwa eine leblose Hölzernheit der ganzen Angelegenheit. „Das Himbeerreich" von Sonnenbichler/Schlockwerder hat von Anfang an Schwung, macht aus dem Chor rhythmische und manchmal geisterhafte Echos der verklausulierenden Finanzwelt-Fachbegriffe.

Die exzellenten Darsteller meistern den Spagat, gleichzeitig Figuren und ironisierende Begleitmusik zu sein. Und dann kommt es doch zu einem zweiten Bruch der Intentionen: Während vielleicht bereits bekannte Vorgänge um Hochrisiko-Spekulationen verständlich durchgespielt werden, erstarrt man in der Erkenntnis: Das haben reale Menschen, sehr einflussreiche Entscheider wirklich gesagt! Das ist es dann doch, nach einer kunstvollen, verspielten Umgehung der ursprünglichen Deklamation, Veiels „gesprochenes Wort, das gilt". Und das wirkt: In Griechenland, Spanien, in eingesparten Kindergarten-Plätzen und Renten bei uns.

Wie der dramatische Verlauf bis zum apokalyptischen Ausblick politisch wirksam ist, wird immanent Teil der dem Stück unweigerlich folgenden Diskussionen sein. Die Inszenierung ruft sicher kein spontanes „Empört euch!" im Geiste des Occupy-Bewegung hervor, die Filiale der Dresdener Bank gegenüber dem Theater ist ja mit dem Unternehmen auch schon lange verschwunden und nicht mehr besetzbar. „Das Himbeerreich" folgt in dieser erlebenswerten Umsetzung Veiels (An-) Satz, „Zorn im Gegensatz zur Wut setzt Reflektion voraus". Dabei hilft ein sehr lohnenswerter Theaterbesuch.


„Das Himbeerreich"

Theater Aachen - Kammer

Inszenierung Bernadette Sonnenbichler
Bühne und Kostüme Tanja Kramberger
Dramaturgie Caroline Schlockwerder

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