25.10.11

Nachtmeerfahrten

BRD 2011 Regie: Rüdiger Sünner 70 Min.

Etwas verspätet zum 50. Todestag (6. Juni 2011) bietet diese Bilderreise zu C.G. Jungs Leben und Lehren eine gute Einführung in das Universum des Begründers der analytischen Psychologie. Rüdiger Sünner, der zuvor „Abenteuer Anthroposophie" oder „Das kreative Universum" drehte, holt sein Publikum mit populären Kino-Figuren aus „Avatar" und „Star Wars" ab, um von dort zu archaischen Mythen zurückzugehen. Den Mythen, die Jung auch bei seinen Nachtmeerfahrten ins „Dunkle Unbewußte" aufsuchte.

Spätestens wenn Jungs Jugenderfahrungen zitiert wurden, die Gott nicht in der Kirche, sondern in der Natur, etwa in der Freundschaft mit einem Stein fanden, denkt man, „der hätte Schamane werden können"! Die Abfolge von Jungs Lebensstationen wird mit Kunstwerken von Geisteskranken, Freuds antiken Reliquien und auch Bildern aus dem „Roten Buch", in dem Jung unzensierte Träume und Visionen sammelte, unterlegt.

Der Kinostart dieser Dokumentation ist zwei Wochen vor Cronenbergs Jung-Spielfilm „Eine gefährliche Begierde" sehr geschickt getimt. Selbstverständlich ergeben sich Bezugspunkte (man erkennt Jungs Haus wieder), doch auch unterschiedliche Wertungen, vor allem was Jungs Affäre mit seiner ehemaligen Patientin Spielrein betrifft. Das Dreieck Jung/Spielrein/Freud wird ganz anders interpretiert, hier wird die Frau fallengelassen, bei Cronenberg geht sie erfüllt ihren eigenen Weg.

Doch neben dieser Episode widmen sich „Nachtmeerfahrten" vor allem Jungs Auseinandersetzung mit dem Dunklen über mehrere Jahrzehnte, etwa über seine Reisen zu den alten Kulturen in Afrika, Nordamerika und Indien, anhand derer er Defizite der europäische Kultur erkennt. Angesichts des Weltkrieges fragt er: „Warum töten wir unsere Brüder im Krieg, statt zuerst den Schatten in uns selbst zu besiegen?" Früh äußert er prophetische Warnungen vor der „blonden Bestie des Germanentums", das nicht vollständig christianisiert wurde. Trotzdem reitet er später auf der nationalsozialistischen Schlammwelle mit. Hier erweist sich - im Cronenberg-Film - Freud als Prophet, der spöttisch meinte, Jung könne den Antisemitismus nicht verstehen. Über Alchemie und den Mythos vom heiligen Gral kommt Jung später zur Vorstellung, das Dunkle nicht wie im Drachenkampf zu besiegen, sondern aufzunehmen und alchemistisch anzuverwandeln. Die interviewten Interpreten und Biographen, die an Jungs Antisemitismus schwer zu knabbern haben, führen das Konzept von Integration statt Vernichtung weiter von der Pädagogik bis zur aktuellsten Außenpolitik. Vor allem Eugen Drewermann verblüfft durch seine überzeugenden Schlüsse. Auch die Geschichte vom Physiker Wolfgang Pauli bringt Erstaunliches zutage: Durch eine tanzende Chinesin in seinen Träumen entdeckt dieser über Jungs Behandlung den Spin von Elektronen, der ihm 1945 den Nobelpreis einbringt.

Insgesamt stellen die „Nachtmeerfahrten" eine schöne, wenn auch in den Bildern konventionelle Einführung und eine Vorbereitung zu Cronenbergs „Eine gefährliche Begierde" dar. Die Fachleute können Details diskutieren, das breite Publikum darf weitgehend unbedrängt von Propaganda Gedankenbilder kennenlernen, die - auch angesichts des neu aufkommenden Religionswahns - immer noch brennend aktuell sind.