2.11.10
Carlos - Der Schakal
Frankreich, BRD 2010 (Carlos) Regie: Olivier Assayas mit Édgar Ramírez, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Christoph Bach, Julia Hummer 187 Min.
Die Geschichte des Super-Terroristen Carlos wird im Vorspann bewusst als Fiktion ausgewiesen, wiewohl alle Taten des real in französischer Haft einsitzenden Verbrechers real sind. Das neueste, spannende Werk von Olivier Assayas („Clean“, „Demonlover“, „Irma Vep“) durfte im Mai in Cannes als Fernsehfilm nicht in den Wettbewerb. Dabei weiß man schon länger, dass TV oft hochwertiger als Kino ausfällt.
Wie auf Jobsuche bietet sich der junge Ilich Ramírez Sánchez Anfang der Siebziger selbst den Palästinensern an. Er hat ein Moskauer Diplom in Ökonomie, will aber auf seine Weise das Unrecht der Welt ausgleichen. Was er auch gerne ausführlich vielen Frauen erzählt. Demos ändern nichts, man müsse bewaffnet Widerstand leisten. Mit seinem neuen Kampfnamen Carlos begleitet er zuerst Aktionen anderer, meist stümperhafter Kämpfer. Drei Japaner wollen Kampfgenossen der „Roten Armee Japans“ freipressen, als die Verhandlungen stocken macht Carlos „Terror im algerischer Stil“: Er schmeißt zwei Handgranaten in Pariser Cafes, die jüdische Besitzer haben. Der arrogante Attentäter bewundert sich nach dem Mordanschlag nackt im Spiegel.
Als das europäische Netzwerk des bewaffneten palästinensischen Widerstands auseinander fällt, übernimmt Carlos die Führung, um den Friedensprozess Arafats zu boykottieren. Assayas erzählt im ersten Teil sogar spaßig: Da fliegt das Geschoss der Panzerfaust in Orly weiter am El Al-Flugzeug vorbei und kroatische Befreiungskämpfer reklamieren den Fehltreffer auf ein jugoslawisches Flugzeug umgehend für sich. Mit der Straßenbahn geht es zur revolutionären Geiselnahme bei der OPEC-Konferenz in Wien. (Ob sie eine Fahrkarte lösten, ist nicht zu sehen.)
Wie bei Soderberghs „Che“ besteht auch „Carlos“ aus zwei Teilen, die Aufstieg und Niedergang eines Revolutionärs zeigen. Sosehr vor allem die Musik einen „coolen“ Typen mit Waffe in der Hand vorführt, sosehr wird immer wieder der egozentrische Extremismus des Protagonisten vorgeführt: Carlos bittet mitten in eine Party mit Freunden aus Lateinamerika die französischen Polizisten zu einer Gegenüberstellung - um dann die Beamten und einen Verräter zu erschießen. Dieser meistgesuchte Feind vieler Staaten plant kaltblütig und mordet heißblütig. Vor allem erschießt immer wieder einmal zuviel. „Waffen sind eine Verlängerung meines Körpers“, meint er einmal. Ist er deshalb auch so erfolgreich auch bei den Frauen, die bei den Waffen ganz aufgeregt werden?
Aber auch als Frauenheld zeigt der Narzisst seine Menschenverachtung. Während der Wiener Geiselnahme nimmt sich der Film viel Zeit, um Carlos’ Denkweise in mehreren Gesprächen offen zu legen. Mit intellektueller Schärfe und unmenschlicher Härte wandelt sich der vermeintliche Idealist zu einem Söldner des internationalen Terrorismus.
Die immer packende Inszenierung von Assayas kann sich - auch in der fünfstündigen Langversion - auf den Hauptdarsteller Édgar Ramírez verlassen. Dank der aktiven Mitarbeit deutscher Zellen am Kampf der Palästinenser bekommen auch eine Reihe deutscher Darsteller eindrucksvolle Auftritte. Vor allem Christoph Bach funktioniert als Hans-Joachim Klein - mit dem Kampfnamen „Angie“ - als Gewissen und Gegenfigur, die noch zwischen Zionismus und Antisemitismus differenzieren kann und nach der Entebbe-Entführung entsetzt aussteigt.