Am Anfang legte Mathieu Amaltric mit „Tournée" noch eine richtig gute Show hin. Der nicht nur aus „Die Taucherglocke und der Schmetterling" bekannte Schauspieler zieht als Joachim und Manager einer amerikanischen Burlesk-Stripshow durch französische Hafenstädte, versprach seinen schrillen Ladies Paris, aber dort hinterließ er Schulden und viele Feinde. Sowie zwei Kinder. Joachim, eine Figur, die Liebenswertes und Unsympathisches vereint, ist gleichzeitig Manager und Kindermädchen. Er achtet stets darauf, dass die Damen irgendwann mal ins Bett gehen, als Nachtfläschchen gibt es meist Champagner. Sehr lebendig diese teils märchenhafte Geschichte eines verlorenen Mannes, der bei seinen Striptänzerinnen eine neue Familie.
Ansonsten zeigte sich Cannes 2010 bislang auch thematisch übersichtlich. Nach fünf Wettbewerbstagen ist der Stand: Banken 3, Alte Männer 5. Von „Wall Street 2" über eine Dokumentation bis zu Hochhäuslers „Unter die die Stadt" ist die Bankenkrise im Kino angekommen. Der Nachwuchs allerdings noch nicht. Woody Allen führt in seiner sehr durchschnittlichen Komödie „You will meet a tall dark stranger" vor, wie alle Mitglieder einer Familie beziehungsmäßig mal was anderes probieren wollen und sich dabei heftig lächerlich machen. Angefangen vom jugend-wahnsinnigen Senior, sehr schön veralbert von Anthony Hopkins, der einer furchtbar jungen und dämlichen Prostituierten verfällt, bis zur Tochter (Naomi Watts), die von ihrem Galerist (Antonio Banderas) träumt. Das nur die verrückteste Witzfigur dieses wie üblich prominenten Ensembles am Ende ihr Glück findet, ist die einzige gelungene Pointe dabei. Allerdings qualifizierte sich Allen in der Pressekonferenz für den treffendsten Satz des Festivals. Auf die Frage, wie er das Altern und den Tod sähe, kam trocken: „Mein Verhältnis zum Tod ist noch immer das gleiche – ich bin grundsätzlich dagegen!"
Den baldigen Tod erwartet Uxbal (Javier Bardem), ein Vater, Dealer, illegaler Arbeitsvermittler und Medium für die Verstorbenen im nicht so schönen Barcelona der Illegalen und Armen. Sein Krebs lässt ihn nur noch ein paar Monate leben. Da er von seinen Zwiegesprächen mit den Toten weiß, wie Unerledigtes sie am endgültigen Gehen hindert, will er für die Seinen sorgen. Für die beiden Kinder, für die afrikanischen Straßenhändler, denen er den Ramsch besorgt, für die chinesischen Illegalen, die er zum Bau vermittelt. Doch auf die bipolare Mutter von Ana und Mateo ist kein Verlass, die Polizei schiebt seinen afrikanischen Freund ab und gerade die Gasheizungen, die den Chinesen das Leben besser machen sollten, sorgen für eine Katastrophe. Dank des eindrucksvollen Charakterdarstellers Bardem („Das Meer in mir") und einer sehr starken Bildsprache setzt der Mexikaner Alejandro González Inárritu seine tiefgründigen Werke („Amores Perros", „21 Grams", „Babel") mit „Biutiful" fort und findet in ungewöhnlichen Bildspielen eine sanfte Antwort auf die quälende Frage „Was ist dort drüben?"
Außer „Biutiful" interessierte nur der 67-jährige Brite Mike Leigh mit „Another year": Dem übermäßigen, nahezu unerträglichen Lebensglücks eines gesetzten Paares stellt er Lebens-Verlierer in ihrer näheren Umgebung entgegen. Tom und Gerrie kümmern sich zwar um völlig verzweifelte Kollegen und Verwandte, doch mit einer gnadenlosen Konsequenz grenzt letztendlich auch die Kamera die aus, die niemals dieses komische Ding namens Leben in den Griff bekommen werden. Verlierer waren auch die Zuschauer bei dem Tavernier-Kostümfilm „La Princesse de Montpensier". Oder wer aussaß, wie bei Mahamat-Saleh Harouns „Un homme qui crie (A screaming man)" sehr konventionell, ein Hotel-Bademeister von seinem Sohn verdrängt wird und den daraufhin mitten im blutigen Bürgerkrieg zum Militär verpflichtet. Richtig blutiges und ziemlich unsinniges Kino lieferte Takeshi Kitano mit „Outrage". Ein Yakuza-Krieg gerät außer Rand und Band, das Publikum kann selbst beim Zahnarzt-Massaker nur noch lachen oder entsetzt weglaufen. Scheinbar brauchte der japanische Superstar Kitano nach arg kunstsinnigen und schwierigen Filmen wieder etwas Geld. Also wer noch einen richtig guten Film in der Schublade hat, sollte schnell mal in Cannes vorbeikommen. Selten war es so einfach, eine Goldene Palme zu bekommen. Momentan ruhen die Hoffnungen auf dem nachgemeldeten Ken Loach, der mit „Route Irish" am Mittwoch laufen wird.
Auch die Nebensektion „Un certain regard" lieferte wenig Erbauliches. Spannend jedoch die kühl inszenierte Affäre eines Frankfurter Bankers mit der Frau eines Angestellten in „Unter dir die Stadt" von Christoph Hochhäusler: Die von der Filmstiftung NRW geförderte Produktion der Kölner Heimatfilm ist kluges Kopfkino und vermittelt wesentlich stärker die Skrupellosigkeit abgehobener Machtmenschen als beispielsweise Stones „Wall Street 2". Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler), Banker des Jahres, will eine Affäre mit Svenja Steve (Nicolette Krebitz) und schickt ihren Mann deshalb zu einem lebensgefährlichen Job nach Indonesien. Ein aufreizendes Machtspiel mit Lebenslügen und Selbsttäuschung beginnt, bei dem die junge Frau dem berufsmäßigen Manipulator keineswegs unterlegen ist. Neben dem Kandidaten für den Satz des Festivals („Was habt ihr eigentlich alle gegen Schweine?" beschert der studierte Architekt und Filmemacher Hochhäusler mit seinen undurchdringlichen Frankfurter Glasfassaden das rätselhafteste Ende: Am Morgen wacht Svenja auf und unten in der Stadt rennen die Menschen schreiend durch die Straßen. „Es geht los!" kommentiert die Frau. Darauf wartet man allerdings noch in Cannes.