20.5.08
Gutes aus deutschen Landen frisch auf die Cannes-Leinwand
„Ich war hier von den Düsseldorfern, Nordrhein-Westfalen und Deutschen am öftesten!“ (Wim Wenders)
Cannes. Der Montag gilt traditionell als der „deutsche Tag“ in Cannes. Für die Deutschen wohlgemerkt und vielleicht für ein paar der anderen hundert Gäste, die für den exklusiven Empfang der Filmexport-Vereinigung „German Films“ in der Villa Babylone eine Einladung ergattern konnten. Kulturstaatsminister Neumann war dort ebenso vertreten wie zahlreiche Regisseure und Schauspieler, unter ihnen Wim Wenders und seine Frau Donata. Der Palmen-Sieger und deutsche Rekordteilnehmer traf bereits am Nachmittag den NRW-Minister für Medien und Europa, Andreas Krautscheid. Nicht zufällig, wurde doch Wenders neuer Film "Palermo Shooting" - sein erster deutscher nach Jahrzehnten - mit Unterstützung der Filmstiftung NRW unter anderem in Düsseldorf gedreht. So konnte Michael Schmid-Ospach, der Geschäftsführer der Filmstiftung NRW, den auf dem Filmparkett frischen Minister nicht nur erstmals in Cannes begrüßen, sondern ihm auch mit Wim Wenders einen alten Cannes-Hasen als Begleiter zur Seite stellen, der sich weiterhin nicht nur mit ausgefallenen Modekreationen originell der allgemeinen Uniformität widersetzt.
Wenders nutzte die Gelegenheit, um den Neuling sehr pointiert zu begrüßen und „aufzuklären“: Es sei im Prinzip alles so wie in der Altstadt von Düsseldorf oder Köln: „Es ist viel los und eine Stunde später ist alles außer Rand und Band. Nur dass hier viel mehr Medien sind.“ Ansonsten genoss Wim Wenders einfach das Festival, weil sein Film erst am Samstag im Wettbewerb zu sehen sein wird. „Das Beste kommt zum Schluss“. Er könne „freundlich die Journalisten begrüßen, weil es hat noch niemand was gegen mich.“ Zwar bleibt keine Zeit zum Schwimmen - „baden gegangen bin ich in Cannes oft genug“ - aber er möchte dem Cannes-Neuling empfehlen, vielleicht auch einen Film zu sehen.
Sehr positiv macht der deutsche Film im Gegensatz zu früher nicht nur mit viel an Hollywood verschenktem Geld („stupid German money“) von sich reden. Während man „Das Fremde in mir“, die karge Studie postnataler Depressionen der jungen DFFB-Studentin Emily Atef, als „das beste Argument gegen Kinder seit ‚Rosemarys Baby’“ in die übervolle Schublade „Depressiv“ steckte, erhielt „Wolke 9“ von Andreas Dresen in allen Vorstellungen stehenden Applaus bei herzergreifenden Szenen mit dem Team. Nach „Halbe Treppe“ und „Sommer vorm Balkon“ erzählt die schöne Sensation im „Certain Regard“ von der Liebesgeschichte zwischen Inge und Werner. Sie fallen übereinander her, treiben es heftig auf Teppichboden und Matratze. Inge wird daraufhin Karl verlassen müssen - kennt man, keine Sensation. Wäre Inge nicht schon über Sechzig und ihre Männer noch ein Jahrzehnt älter, wäre „Wolke 9“ ein Liebesfilm mit einem vielleicht zu dramatischen Ende. Ein erotischer Film mit viel nackter Haut - und mit dieser Aussage lässt sich immer vortrefflich eine heftige Diskussion auslösen. Einige Kollegen meinten, sie mussten wegschauen, beim Anblick nackter alter Körper, die schön leidenschaftlich miteinander schlafen. Wie weit ist der perverse Jugendwahn schon in die Köpfe gedrungen, wenn Alter als unerträglich angesehen wird? Wenn Gewalt und Folter hingegen alltäglich konsumiert werden?
Voller Erotik steckt auch der neue Woody Allen: „Vicky Cristina Barcelona“ - überraschend gut und spritzig. Mit Scarlett Johansson als Salz in der scharf kochenden Liebessuppe von Javier Bardem und Penelope Cruz lotet der alte New Yorker noch einmal reizend und durchaus mit ernstem Hintersinn Varianten von Liebe und Sexualität aus. Die Abgründe einer einfachen Familie erforscht der geniale türkische Fotograf und Regisseur Nuri Bilge Ceylan in seinem vierten Film: Nach den ausgezeichneten „Uzak“ und „Iklimler“ schafft es „Üç Maymun“ (die „Drei Affen“, die nichts hören, sehen, sagen), in einem großen Finale die Geschichte einer kommunikationslosen Familie raffiniert und psychologisch stimmig zusammenzuführen. Dieser stillere Film (mit großartigen Schauspielern) wirkt jeodch nicht auf Anhieb, braucht vielleicht etwas mehr Bedenkzeit als nur bis zum nächsten Film im Bilderreigen von Cannes.
Ob es mit der dritten Palme für die Lütticher Brüder Dardenne hinhaut, ist nach „Le silence de Lorna“ offen: Die Geschichte einer Albanerin, die über zwei Scheinehen und einen Mord zu belgischer Staatsbürgerschaft und Geld für einen Imbiss kommen will, fesselt dank toller Darsteller und überrascht mit einer neuen Form, in der Schuld zur Welt kommen will. Doch im Wettbewerb blieb der stehende Applaus bislang aus.