30.8.07
Venedig - Lust auf Kino, Vorsicht im Kino
Venedig. "Kino, das die Augen reinigt! Die Schlacken der visuellen Überflutung wegspült und Film wieder ins Bewusstsein dringen lässt." So sehen die Wunschfilme von Venedigs Festivaldirektor Marco Müller aus, der angekündigt hat, dieses Festival bald zu verlassen. Lange Flüge über dünnes, kalt-blaues Eis, die Monotonie fast menschenleerer Schneelandschaften in dem Eskimo-Drama "Far North" erfüllen vielleicht diese Reinigungsfunktion. Aber egal ob in der Tundra, im japanisch besetzten Shanghai oder im gestylten Appartement des Erfolgsautors Andrew Wyke (Michael Caine): In den ersten zwei Mostra-Tagen ging es oft dramatisch um Männer und Frauen, wobei von einer Sorte immer einer zuviel da war.
Vor zwei Jahren bekam der aus Taiwan stammende Regisseur Ang Lee für seinen amerikanischen "Brokeback Mountain" den Goldenen Löwen. Jetzt verfilmte er wieder eine Kurzgeschichte mit erotischer Triebkraft. "Se, jie (Lust, Caution)" erzählt im Titel auf chinesisch und Englisch von der Lust und der Vorsicht. Schwer zu balancieren für die junge Agentin Wong Chai Chi. 1942 während der japanischen Besetzung großer Teile Chinas, erleben wir in Shanghai den inneren Kreis aus Ehefrauen der Majonetten-Regierung. Beim Mahjong-Spiel belauern sie sich hinterhältig, doch was wirklich hinter den Fassenden der fein geschminkten Gesichter vor sich geht, enthüllt erst eine Rückblende. Bereits vier Jahre vorher suchte Frau Mak den Kontakt der mächtigen Frau Yee. Frau Mak ist in Wahrheit die Studentin Wong Chai Chi, die mit Kollegen einer Laien-Theater- und Laien-Widerstandstruppe den Verräter Yee umbringen will. Dabei schwärmte das Mädchen eigentlich nur für den jungen Anführer der Truppe. Die Studenten geben sich als Geschäftleute aus, ruinieren sich mit zu teurem Lebensstil, aber haben Erfolg: Wong Chai Chi wird Freundin der Frau Yee und fast die Geliebte des Kollaborateurs. Doch dann fliehen die Yees nach Shanghai und erst Jahre später wird Chai Chi erneut vom Widerstand kontaktiert. Jetzt geht der extrem vorsichtige, auch mit Folter beauftragte Sicherheitschef Yee auf das Verhältnis ein, doch vor allem Chai Chi verfällt ihm sexuell.
Faszinierend rekonstruierte und gemalte Sets lassen das Shanghai und vor allem ein irritierend flach bebautes Hongkong der Vierziger Jahre aufleben. Die Geschichte von der Gefahr, seinen Unterdrücker zu lieben, ist nicht wirklich neu und wie schon bei "Brokeback Mountain" wurde die intensive Kurzgeschichte - hier von der populären chinesischen Autorin Eileen Chang - zu sehr ausgeweitet. Ko-Autor Lees war erneut sein langjähriger Produzent James Schamus. Erst auf dem Höhepunkt des Gefühlkonflikts Wong Chai Chis, die den jungen Widerständler liebt, aber den Feind ins Bett gehen muss (und dieser Lust verfällt), packt die Geschichte wirklich. Eindringlich sind dabei vor allem die sehr offenen Liebesszenen voller Gewalt und Intensität, von denen Ang Lee ("Sinn und Sinnlichkeit", "Eissturm") erzählt, sie hätten - mit ganz intimem Team hinter der Kamera - nur einen halben Tag arbeiten können, danach wären alle völlig ausgelaugt gewesen.
Eine britische Schauspiel-Show liefern Michael Caine und Jude Law, die bereits 2004 im Remake von "Alfie" zusammenspielten, in "Sleuth" vom Shakespeare-Mimen Kenneth Branagh: Der erfolgreiche Autor Andrew Wyke (Michael Caine) bekommt in seinem stylisch-futuristischen Anwesen Besuch vom Milo Tindle (Jude Law), arbeitsloser Schauspieler und Liebhaber seiner Frau. In einem Duell über drei Runden tasten sich die Konkurrenten ab, spielen mit einander und schließlich auch mit Pistolen. Reizvoll aber nicht unbedingt überzeugend - vielleicht weil die Frau, um die es geht, niemals im Film auftauchen wird?
Die irritierende Rückkehr des Liebhabers als ruppiger Polizist mit Schnurrbart und ebenso prolligem Akzent ist nicht das einzige Deja Vu dieses Films. Branaghs "Sleuth" ist ein Remake des gleichnamigen Films aus dem Jahre 1972. Damals brachte Altmeister Joseph L. Mankiewicz das Anthony Shaffers Stück von der Bühne auf die Leinwand. Den jungen Liebhaber spielte der damals der 39-jährige Caine! Jude Law wurde im Jahr des Originals geboren. Die Bühnen- und Leinwand-Legende Laurence Olivier gab einst den berühmten Autor. Eigentlich überraschend, dass sich Regisseur Kenneth Branagh, in seinen vielfältigen (Shakespeare-) Aktivitäten ein Nachfolger Oliviers, nicht selber als Wyke besetzt hat. Zumindest dabei hielt er sich zurück, stilistisch fällt er wieder mit einigen Manierismen auf.
Ganz ohne solche kommt Asif Kapadia in dem erfrischend klaren Eis-Drama "Far North" aus, das außer Konkurrenz in Venedig läuft: Zwei Eskimo-Frauen - unter anderem Michelle Yeoh, die in Ang Lees "Crouching Tiger, Hidden Dragon" spielte - meiden in der Einsamkeit des Nordens jeden menschlichen Kontakt, da die russische Soldateska, die hier alles terrorisiert, bereits ihre ganze Familie niedermetzelte. Als sie einen flüchtenden Soldaten aufnehmen, entwickelt sich ein Dreiecksdrama mit sehr überraschendem Ausgang. Die von einer starken Ursprünglichkeit lebende Cinematographie überzeugt und reinigt tatsächlich die Augen für mehr löwenstarke Filme.