9.8.07
Überraschungsparty Locarno
Locarno. Er ist noch mal ein Jahrzehnt älter als dieses Festival, doch sein neuester Film gehört zum mutigsten und wildesten des 60. Filmfestivals von Locarno (1.-11.8.2007): Sir Anthony Hopkins präsentierte mit dem verwirrenden Film-im-Film-Spiel "Slipstream" seine zweite Kinoregie. (Zuvor huldigte der geborene Waliser seinem genialen Landsmann Dylan Thomas und verlegte Tschechows "Onkel Wanja" für "August" nach Wales.) Der zwar oft verwirrende, aber immer faszinierende Film-im-Film zeigt Hopkins als Hollywood-Autor Felix Bonhoeffer, der sich in seinem eigenen Skript verirrt und dann noch von einem wahnsinnigen Produzenten (John Turturro) als Drehbuchdoktor für den mörderischen Plot engagiert wird. Das äußerst prominente besetzte Filmrätsel karikiert und zitiert die Filmwelt. Hopkins reale Lebensgefährtin und Produzentin Stella Arroyave spielt eben diese Rolle auch im Film.
Der ungemein angenehme kultivierte und intelligente Anthony Hopkins hatte bei der Premiere seines Films in "Old Europe" sichtlich Spaß, gab auf eine dumme Journalistenfrage aus dem Stegreif den Deppen, spielte auch sonst die Doppelrolle von Star und Künstler locker mit. "Slipstream" entstand noch seinem eigenen Buch, das er als "intellektuelle Herausforderung" für sich selbst schrieb, dazu komponierte er auch die Musik zu diesem Film, der stark an die besten von David Lynch erinnert.
Der eigentliche David Lynch, noch so ein Multi-Talent, war übrigens auch zu sehen: In der Dokumentation "Lynch" eines Team eigener, junger Mitarbeiter. Bemerkenswert dabei, wie sehr der Schöpfer schrägster und beängstigender Filmlabyrinthe ein Handwerker ist: Dauernd hämmert, sägt, malt oder dreht er irgendwas!
Im hochwertigen Wettbewerb Locarnos, dessen Sieger heute Abend prämiert werden, begeisterte "Freigesprochen", eine starke Horvath-Verfilmung von Peter Payer aus Österreich. Inspiriert vom Drama "Der jüngste Tag" verursacht der Weichensteller Thomas Hudetz (Frank Giering) wegen eines spielerischen Kusses der jungen Anna (Lavinia Wilson) ein Zugunglück. Die schicksalhafte Auseinandersetzung von Leidenschaft und Verantwortung des 70 Jahre alten Stoffes erweist sich als ergreifend aktuell.
"Früher oder später", der deutsche Mädchenfilm der Münchnerin Ulrike von Ribbeck, enttäuschte in Inszenierung und in der klischeehaften Geschichte der 14-Jährigen Nora, die mit ihrem verträumten Schwärmen einem älteren Nachbarn den Kopf verdreht. Bemerkenswert dabei nur die Hauptdarstellerin Lola Klamroth, die Tochter Peter Lohmeyers, der auch ihren Filmvater spielt. Schon mit "Wunder von Bern" reiste der Fußballfan Lohmeyer mit seinem (Film-) Sohn ins Tessin. War etwa das traditionelle Locarneser Fußballspiel von Filmstars gegen Verleiher der eigentliche Grund, dass (man) "Früher oder später" nach Locarno kam?
Zu den Favoriten im Rennen um den Goldenen Leoparden gehört das spanische Drama "Ladrones" von Jaime Marques, in welchem der grandiose Jungstar Juan José Ballesta ("Planta 4", "7 Jungfrauen") als Sohn einer Taschendiebin in den Metros Madrids gegen seine Diebes-Triebe ankämpft. Doch schicksalhaft findet ein Mädchen aus besseren Verhältnissen gerade nur über die verbotene Lust zu ihm. Mit großer Musik und Mut zu viel Gefühl lässt "Ladrones" sogar an "Außer Atem" mit einem jungen Belmondo denken.
Auf der Piazza war "Nichts als Gespenster" von Martin Gypkens als Mitternachtsfilm leider falsch angesetzt. Die partiell eindrucksvollen, mit August Diehl, Jessica Schwarz und Fritzi Haberlandt sehr gut besetzten Episoden nach dem gleichnamigen Erzählband von Judith Hermann beeindruckten zwar durch reizvolle Farbdramaturgie vom Antonioni-Rot des Grand Canyon bis zum Schwarzgrau einer kalten Liebe in Hamburg. Doch nicht alle 8000 Zuschauer hielten aufmerksam durch. Vielleicht fehlte ihnen auch der Zusammenhang der Episoden. Dass Locarno trotz Zugaben an den Mainstream auf der Piazza auch bei der 60. Ausgabe als mutiges, junges Festival gelten darf, belegt unter anderem "Ai no yokan", der neue Masahiro Kobayashi im Wettbewerb: Wie in gnadenloser Wiederholung scheinbar völlig identischer Alltagsszenen der Vater einer ermordeten Schülerin und die Mutter der Täterin zueinander finden, zeigt einen anderen, auch faszinierenden Pol der Kinowelt, die sich auch im 60. Jahr lebendig in Locarno drehte.