6.12.10

Nowhere Boy


Großbritannien, Kanada 2009 (Nowhere Boy) Regie: Sam Taylor-Wood mit Aaron Johnson, Kristin Scott Thomas, Anne-Marie Duff, Thomas Brodie Sangster 98 Min.

Auch wenn der Film geschickt zum 8.12.2010, dem 30. Todestag von John Lennon gestartet wurde: „Nowhere Boy“ ist weniger ein Schlüsselfilm für Werk und Person des Ex-Beatles, des „Nowhere Man“-Schreibers Lennon. Er erzählt vielmehr auf schöne und bewegende Weise das Drama von zwei sehr unterschiedlichen Schwestern, deren eine die Mutter und die andere die Pflegemutter eines Jungen namens John aus Liverpool waren. Wobei die Umsetzung der Erinnerungen einer Halbschwester von Lennon (Julia Baird: „Imagine This. Growing Up With My Brother John Lennon“) dann letztendlich doch eine Erklärung für die zerrissene Persönlichkeit dieses kreativen Menschen liefert. Im seinem Song „Mother“ heißt es: „Mother, you had me / but I never had you“

In den 50er-Jahren war Rock’n’Roll noch keine Bewegungs-Therapie für Ü60-Musiker sondern DIE Ausdrucksform für jugendliche Rebellion. So hört der immer trotzige und freche John Lennon (Aaron Johnson) selbstverständlich Jerry Lee Lewis, während seine Tante Mimi Smith (Kristin Scott Thomas), bei der er aufwächst, korrekt gekleidet die Klassiksendungen der BBC verfolgt. Lederjacke und Gel im Haar sind John genauso wichtig wie die Rhythmen. Auf dem Dach der Doppeldecker durch Liverpool zu fahren, war der Vorläufer des S-Bahn-Surfens. Eine normale Jugend also, bis John erfährt, dass seine richtige Mutter Julia Lennon (Anne-Marie Duff) um die Ecke wohnt. Immer öfter geht er heimlich zu ihr. Er lernt, dass es beim Rock’n’Roll meist um Sex geht, und auch das Banjo zu spielen. Während die Zerrissenheit zwischen der exzentrischen Julia, die wie ein Kumpel ausgelassen mit ihm feiert, und der strengen Mimi wächst, stürzt sich John in die erste eigene Band, die „Quarrymen“.

Ganz eingebildetes Großmaul „erwählt“ sich John seine Bandmitglieder. Erst nach einer Weile taucht ein eher stiller, schmächtiger Paul (Thomas Brodie Sangster) auf, der allerdings schon richtig Gitarre spielen kann. John schreibt Geschichten und Gedichte - „leg eine Melodie drunter und du hast einen Song“, empfiehlt Paul. Doch das ist nur Begleitmusik zum Drama der beiden Schwestern. Die psychisch instabile Julia muss John wieder gehen lassen und in einem heftigen Streit an seinem Geburtstag erfährt der verwirrte Junge, wie er als Fünfjähriger von seiner Mutter zurückgelassen wurde...

„Nowhere“, da sei es sicher voller Genies, „dann gehöre ich dort hin“, meint der Schüler John auf den tadelnden Lehrer-Spruch „Damit kommst du nirgendwo hin.“ Doch sein großes Problem ist das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Das Dach über dem Kopf gewährt ihm die nach außen gefühlskalte Tante, die selbst beim Tod ihres Mannes keine Träne zulässt. Die Begeisterung für Musik und das leidenschaftliche Leben erfährt er bei der psychisch labilen Julia, die ihren Jungen behalten möchte, aber nicht die Kraft dazu hat. Besonders diese von Anne-Marie Duff so ungemein lebenslustig und herzlich, aber auch extrem traurig gespielte Frau bestimmt diese Geschichte. Kristin Scott Thomas brilliert mit der Zerrissenheit Mimis, die immer stark sein will und ihrer Schwester nur schwer ihre Liebe zeigen kann. Dazwischen - eher am Rande - ein einsamer junge, der nirgendwo ein zuhause hat, aber wie Elvis sein will. Mit seiner Brille sieht er noch aus wie Harry Potter oder Buddy Holly und reist am Ende des Films nach Hamburg. Das ist eine andere Geschichte - auch als die von Iain Softleys „Backbeat“, der die gleiche Prä-Beatles-Zeit wesentlich schwungvoller zeigt.