27.10.06
Kino oder Konzert? Der Stand der Kl ä nge.
Was Sie schon immer über Filmmusik wissen wollten und nicht fragen konnten, weil der Komponist nie dabei ist.
Gent. Wahrscheinlich besteht die ganze Filmwelt aus verkannten Genies. Alle werden sie übersehen, nicht genug geschätzt und stehen nie im Scheinwerferlicht: Drehbuchautoren, Produzenten, Setdesigner und vor allem Komponisten. Letztere haben zumindest eine Heimat, einen Ort, an dem man sie liebt: Gent im belgischen Flandern.
Dort residiert seit 2001 die World Soundtrack Academy und im Rahmen des "Flanders International Film Festival" werden jährlich die "World Soundtrack Awards" (WSA) verliehen. Dazu gibt es in Konzertsälen all die überhörte Musik live und pur - wenn nicht schon wieder einige Bildschirme mit Filmbildern ablenken würden. Außerdem hörte man beim 33. Flanders International Film Festival (11.-21. Oktober) reichlich Stellungnahmen zum Stand der Klänge.
Welche Funktion hat Ihre Musik im Film?
"Meine Musik soll den Film unterstützen, sich nicht selbst aufdrängen. Ich höre sie normalerweise nur im Kontrollraum, in voller Orchestrierung finde ich sie irritierend." John Powell, der Komponist von unter anderem "Ice Age: The Meltdown", "Mr. & Mrs. Smith" und "Bourne Identity" war Ehrengast des Festivals und wurde mit einer Suite während der "World Soundtrack Awards" beglückt, zu der er selbst Schlagzeug spielte.
"In diesen politisch schwierigen Zeiten kann die Musik verbindend wirken. Obwohl ich Oliver Stone sehr schätze, war ich bei der Anfrage zu 'World Trade Center' skeptisch. Aber er hat alle Zweifel ausgeräumt." Craig Armstrong lieferte zu "World Trade Center" einen ungewöhnlichen Score mit viel Chor und Pathos ab. Wie sehr seine Kompositionen geschätzt werden, machte Schauspieler Michael Caine klar, als er "The Quiet American" nur unter der Bedingung spielen wollte, dass Armstrong die Musik schreibt. Während der Brite durch "Romeo & Juliet", "Moulin Rouge", "Ray" und "Love Actually" bekannt wurde, komponiert er die meiste Zeit klassische Musik - fürs Orchester, nicht fürs Kino.
"Für 'Flight 93' schrieb ich besänftigende Musik, da diese Situation im entführten Flugzeug so dramatisch ist, dass sie eigentlich keine Musik braucht. Also entschied ich mich, musikalisch die Hand des Publikums halten. Das zeigt, dass Filmmusik nicht zu manipulativ sein darf. Mir fällt da Hitchcock ein, der zur Situation von 'Lifeboat' (ein Rettungsboot einsam im weiten Ozean) fragte: Wo ist das Orchester? Im Boot nebenan?" (John Powell)
Wann setzt der Komponist ein?
Immer als letzter, immer unter enormen Zeitdruck. Denn "Hollywood ist der einzige Ort der Welt, an dem man seine Komposition um sechs Uhr morgens fertig schreibt und sie dann in vier Stunden orchestriert und kopiert bekommt." (Powell) Wenn es allerdings mal anders sein sollte, ist es auch nicht gut, weil "in Hollywood zwischen Script und Film alles ausgewechselt werden kann: Das Drehbuch selbst, der Regisseur zweimal und aus der Hauptdarstellerin wird ein Mann ..." (Tommy Pearson, Filmmusik-Spezialist beim BBC-Radio)
"Meist gibt das Drehbuch die Atmosphäre vor, besser ist es allerdings, den fertigen Film zu haben, dann hat man auch die wichtigen Soundeffekte und die Stimmen dabei." (Powell)
Der deutsche Komponist Peer Raben (erhielt in Abwesenheit den Lifetime Achievement Award) kann es sich als eigensinnige Legende aus Fassbinder-Zeiten erlauben, seine Musik erst am Ende hinzuzufügen. Ohne weitere Diskussion, wie seine jungen Mitarbeiter Florian Moser und Michael Bauer aus "Rabens Workshop" berichten. Wong Kar-Wai bediente sich für "2046" bei einer Kassette, die ihm Raben auf Anfrage zuschickte. So was geht allerdings auch schon mal schief: Kubrick schmiss 1968 den bei Alex North bestellten Score für "2001" in den Mülleimer und benutzte einfach die Musik, die während der Produktion schon unter den Bildern lag.
"Wenn man früh während der Produktion direkt Szenen mit Originalmusik vertont, bringt das zwei bis drei Mal mehr Arbeit, denn die Musik wird später mit weg geschnitten." (Powell) Diese parallele Drehen und Komponieren sei nur machbar, wenn Regisseur und Komponist eine Person sind. Siehe Tom Tykwer bei "Lola rennt" oder auch bei "Das Parfum". Oder Tony Gatlif mit fast allen seinen Filmen von "Gatjo Dilo" bis "Transylvania".
"Musik hat etwas Irrationales, es ist die Musik der Seele, die ich in der reichen Musiktradition der Roma finde." (Tony Gatlif)
Gatlif erhielt zusammen mit Delphine Mantoulet für seine "Gadja Dila"-Geschichte "Transylvania" (mit Asia Argento) den Georges Delerue-Preis für die beste Musik. Zusammen mit dem Publikumspreis für den Gypsy-Musik-Konzertfilm "When the Road Bends: Tales of a Gypsy Caravan" (von Jasmine Dellal) stellte "Transylvania" allerdings einen subversiven Kontrapunkt gegen all das Orchestrieren und Symphonisieren von Filmmusik in Gent und anderswo. Bei Gatlif ist Musik selbst als Filmkonserve noch äußerst lebendig, während die befrackte Live-Aufführungen von aus der Funktion gerissener Filmmusik in den seltensten Fällen Erlebnisgewinn bringen. Man muss ja auch keine Opernlibretti vorlesen. Nach mehr als hundert Jahren Kino traut sich Unterhaltung scheinbar immer noch nicht Unterhaltung zu sein und strickt weiterhin an einem unpassenden Kunstmäntelchen.