1.10.06
Deutschland - Ein Sommerm ä rchen
Die große Luftblase namens "Weltmeisterschaft der Herzen" (in der Disziplin Fußball) gibt ihren letzten Pupser ab: Ganz eilig nach dem Fußball-Großereignis "Weltmeisterschaft der Herzen" kommen die Innenansichten von Sönke Wortmann ins Kino. Der Ex-Fußballer und Erfolgsregisseur ("Das Wunder von Bern") begleitete die Balltreter des Deutschen Fußballbundes auf Schritt und Schienbeintritt. Herausgekommen ist das unbedarfte Sommervideo des Klassenausflugs großer Jungs.
Lange Gesichter. Trauerstimmung. Sönke zeigt das Ende zuerst. Soviel sei verraten, die Aktiven des Deutschen Fußballbundes wurden trotz hunderter andersartiger Versprechen nicht Weltmeister. Doch bald wechselt das "Sommermärchen" zur leichten Tonart, die es trotz Niederlage nicht mehr verlassen wird. Ungelenke Verrenkungen bei ungewohnter Gymnastik, das macht Spaß und kann unbeschwert heiter werden. Das Trainingslager im Süden, der Einzug ins Berliner Hotel. Zwischendurch dürfen die Klassenclowns Poldi und Schweini selber mal die Kamera halten.
Und dann diese eigenartige Perspektive! Einige mögen mit diesen Medien-Menschen namens Ballack, Klinsmann, Kahn den ganzen Sommer verbracht haben. Ihrer Omnipräsenz konnte man nur schwer entkommen. Doch der Blickwinkel Wortmanns überrascht, irritiert gar. Man ist den WM-Dritten unverstellt nah, sitzt mit in der Kabine, auf den Betten im Hotelzimmer und auf der Ersatzbank. So nahe dran war seit Leni Riefenstahl niemand mehr an einem sportlichen Großereignis. Dabei erfreut das wache Auge für kleine, originelle Momente. Kein Wunder, denn auch Frank Griebe ("Das Parfum", "Herr Lehmann", "Lola rennt"), einer der besten Kameraleute Deutschlands, drehte mit.
Sönke Wortmann hatte schon zuvor Großes geleistet im Genre Fußballfilm. Neben einem Werbefilm für die Aachen-Münchener Versicherung mit Mario Adorf gelang ihm auch "Das Wunder von Bern", ein Sportfilm mit Historie, Leidenschaft und fast amerikanischem Finale. Damals, 1954, waren die DFB-Kicker übrigens so gut, dass sie tatsächlich Weltmeister wurden.
Wortmanns Film ist selbstverständlich nett zu seinen Jungs. Nur zwei Figuren bekommen etwas ab: Poldi - klar. Irgendwann macht das kölsche IQ-Wunder den Mund auf und schon ist die Ballherrlichkeit vorbei. Besonders die Bemerkung, dass man bei der langen Warterei vor dem Spiel so viel nachdenken müsse, sorgt für Lacher. Und Klinsi. Ja, der schwäbische Oberguru steht mit seinen immergleichen Aufpeitsch-Phrasen für die Hohlheit einer vor allem behaupteten Qualität. Erstaunlich, wie schal die ganze Motivations-Schiene, an die so viele glaubten, schon nach kurzer Zeit wirkt. Wie wohltuend kompetent im Gegensatz zum Guru Klinsi wirkt da "Yogi" Löw: Hier redet jemand Fußball mit purem (Sach-) Verstand. Der Film zeigt übrigens erfreulich wenig Fußball. Hauptsächlich Chancen und Tore werden schnell abgehandelt, dann gibt es wieder die wichtigeren Reaktionen von Spieler und Team.
Das früh und ungesehen schon hochgejubelte "Sommermärchen" ist nicht analytisch, beobachtet allein die Oberfläche. Nur kurz bleibt der Blick nach einer dieser gebrüllten Kampfreden auf dem Gesicht Klinsmanns. Die Mundwinkel zucken zwischen Lächeln und Zweifel. Glaubt er selbst an den Endspiel-Sieg? Doch so Hintergründiges, Doppelbödiges bleibt Ausnahme. "Deutschland - Ein Sommermärchen" ist keine großartige Dokumentation. Während Wortmann mit kleinen Handkameras beweglich mit dabei war, drehte etwa Pepe Danquart seine großartige Tour de France-Dokumentation "Höllentour" mit Kino-Aufwand und -Qualität. Großes Kino im Vergleich zum Familien-Video "Sommermärchen".
Doch das Ergebnis ist trotzdem eindrucksvoll - auch ohne den pathetisch triumphalen Aufbau bei anderer Sportfilmen: Nur langsam wächst die Begeisterung der patriotisierten Bevölkerungsteile, dann machen aber Polizisten, das Technische Hilfswerk, Soldaten und ganze Volksaufmarschplätze die große Welle mit. Hier, im freundlichen Blick auf die Massen, erweist sich die Innenperspektive Wortmanns noch einmal als äußerst reizvoll.
Die große Entdeckung des Films ist nicht der Einkaufszettel, den man Jens Lehmann im unpassendsten Moment, kurz vor dem Elfmeterschießen, zusteckte. Es ist die schockierende Erkenntnis, dass die wahre Weltmeisterschaft - also nicht die der Herzen - vergeigt wurde, weil in der deutschen Kabine dauernd Xavier Naidoo lief. Das Gejammere spült auch die härtesten Jungs weich. Haben die Italiener vielleicht Eros Ramazotti laufen lassen?