Bei der Ankunft am Flughafen Venedigs braucht der 14-jährige Fraser (Jack Dylan Grazer) aus New York erst einmal einen Schnaps, um seine heftig pubertäre Aufregung zu bremsen. Denn - große Katastrophe - seine Koffer sind verschwunden! Nicht nur der blondierte Junge mit den grellen Klamotten ist auffällig, auch seine Mütter sind besonders. Übernimmt doch die leibliche, Colonel Sarah Wilson (Chloë Sevigny), das Kommando eines US-Stützpunktes an der Küste. Am ersten Tag streunt das „Kind vom neuen Kommandanten" durch die abgeschlossene Garnison und versucht, möglichst viele Regeln zu brechen. Angetrieben von Musik auf den Kopfhörern und später vom Alkohol folgt Frazer ein paar Jugendlichen der Militär-Schule, starrt am Strand vor sich hin und verliert sich einem Fischerdorf. Bis seine eher kumpelhafte Mutter Maggie Wilson (Alice Braga) ihn findet und direkt bei ihrem neuen Job als Army-Krankenschwester verarztet.
Nach dieser aufgeladenen und gleichzeitig fließenden ersten Folge lernen wir Caitlin Poythress (Jordan Kristine Seamón) kennen, von der Fraser fasziniert ist. Die Tochter einer nigerianischen Mutter und eines Militärs testet die Geschlechtergrenzen aus. Sie hat einen Freund, flirtet aber in der Dorfkneipe mit Mädchen und kleidet sich wie ein Junge. Mit dem Vater boxt sie und erzählt auch ihm und nicht der Mutter von der ersten Monatsblutung. Caitlin und Fraser werden das Herz der acht Folgen sein. Daneben kämpft Sarah um Autorität auf der US-Basis, junge Soldaten werden schlecht ausgebildet nach Afghanistan geschickt.
Der italienische Regisseur Luca Guadagnino ist mit Filmen wie „Call Me by Your Name", „A Bigger Splash", „Ich bin die Liebe" einer der besten und spannendsten unserer Zeit. Als ihm nach dem Erfolg des wunderbaren Coming Out-Dramas „Call Me By Your Name" vorgeschlagen wurde, eine Serie in einem typisch amerikanischen Vorort zu drehen, war er von diesem Stereotyp wenig begeistert. Bis ihm die Kindheit der Schauspielerin Amy Adams einfiel, die als Tochter eines amerikanischen Soldaten auf einem Militärkomplex im italienischen Vicenza geboren wurde. So ist für die Coming-of-Age-Serie „We Are Who We Are" von Guadagnino die Kaserne ein US-amerikanischer Mikrokosmos. In ihm wird in großen und offenen Szenen mit viel Lebenslust das Thema Gender-Fluidität erlebt.
Die Kamera folgt Fraser dicht auf dem Fuß, diesem Jungen, der nicht nur für die anderen erstaunlich wirkt. Er schlägt seine Mutter heftig und kriecht dann nachts in ihr Bett. Kurz: Der perfekte Gegenpol zum Militärgehabe um ihn herum. Colonel Sarah Wilson, die Mutter dieser Diva, gibt sich als harte Kommandantin, ist aber zuhause weinerlich und schwach. Caitlin dagegen verfolgt ihren Weg, den sie noch gar nicht kennt, mit erstaunlicher Dickköpfigkeit. Eine frühe Verabredung zwischen Fraser und Caitlin, sich nie zu küssen, beendet schnell etwaige Hoffnungen auf eine romantische Geschichte.
Guadagnino zeigt in seinem „Film in acht Akten" wieder viel Lebensgefühl unter strahlender Sonne und auch die tief berührende Sensibilität von „Call Me by Your Name". Im Stil ließ sich der Italiener von Maurice Pialats breiten Personen-Ensembles und „Die Sonne Satans" inspirieren, der 1987 eine Goldene Palme in Cannes erhielt. Treiben lassen kann man sich auch als Zuschauer (in den vier Folgen, die es nur für die deutsche Presse gab). Dazwischen wieder sehr offene, ehrliche Gespräche um große Lebensthemen. Tatsächlich schafft es dieser Ausnahmeregisseur, seine Qualitäten auch auf die Serie zu übertragen.
„We Are Who We Are" (Italien/USA 2020), Regie: Luca Guadagnino, mit Jack Dylan Grazer, Jordan Kristine Seamón, Chloë Sevigny, Alice Braga, acht Folgen von 50-58 Min. FSK: ohne Angabe