Frankreich, Belgien 2019 Regie: Justine Triet, mit Virginie Efira, Adèle Exarchopoulos, Sandra Hüller, Gaspard Ulliel 101 Min. FSK ab 12
„Ihr Sinn fürs Drama ist abnormal stark entwickelt", so hieß es schon im sehr reizvollen Vorgängerfilm „Victoria", ebenfalls von Justine Trier und mit Virginie Efira. Diese spielte damals eine Anwältin mit so unethischen, chaotischen und dreisten Handlungen, dass sie ihre Zulassung verlor. Nun ist diese grandiose Schauspielerin fürs Komische und Tragische die Psychotherapeutin Sibyl. Sie will nach Jahren wieder ein Buch schreiben und gibt ihre Praxis auf. Nur die junge und schwangere Schauspielerin Margot (Adèle Exarchopoulos) drängt weiter zur Beratung. Mit der abenteuerlichen Situation einer Affäre mit einem Kollegen, der eigentlich mit der gemeinsamen Regisseurin Mika (Sandra Hüller) zusammen ist. Eine ganz schön interessante Geschichte, muss sich auch Sibyl gedacht haben, als sie anfängt, die Sitzungen aufzunehmen. Später manipuliert die Psychotherapeutin selbst das Dreiecksverhältnis. Bis sie schließlich bei explodierenden Dreharbeiten auf dem Vulkan von Stromboli auch beim Film die Regie übernimmt. Die Regisseurin Mika ging vorher über Bord...
Das grandiose Porträt „Sibyl" erzählt nicht nur eine noch viel atemberaubendere Geschichte, es zeigt vor allem ihre Titel-Figur in einer Komplexität, die Filme so gut wie nicht mehr zustande bringen. In erotischen und abenteuerlichen Tagträumen erinnert sich Sibyl an eine selbstzerstörerische frühere Beziehung, die sie als extrem suchtgefährdete Trinkerin zeigt. Das ist kongenial und äußerst spannend ohne Überleitungen montiert (Schnitt Laurent Sénéchal). Ein scheinbar leichtes Spiel auf verwirrend vielen Ebenen, die dann ein intensives Gesamtbild dieser faszinierenden Person ergeben.
Das ist im Kern dramatisch und tief bewegend, aber dabei auch umwerfend komisch, wenn Margot beim Filmdreh ihrem auch echten Liebhaber Igor (Gaspard Ulliel) eine Ohrfeige geben soll und die betrogene Regisseurin die schmerzhaften Schläge sehr, sehr oft wiederholen lässt. Da ist Sibyl schon die wichtigste Person, auf die alle bauen. Das Paar redet nicht mehr miteinander, sondern nur noch über die Psychotherapeutin. Auch stilistisch schillert „Sibyl": Der französische-italienische Set lässt tatsächlich an Godards „Le Mépris" (Die Verachtung) denken, dieses Meisterwerk über Beziehungen beim Filmemachen mit Fritz Lang, Michelle Piccoli und Brigitte Bardot. Selbstverständlich ist auch „Stromboli" von Rossellini Referenz.
So dreist wie Sibyl mit ihren Klienten spielt, geht auch der Film mit seinen Figuren um. Ganz großartig, wie Sibyls labile Schwester ihrem Neffen beibringt, die Mutter mit traurigen Blicken und Vorwürfen aus dem Handbuch der Küchenpsychologie zu manipulieren. Spätestens da überlegt man, wer eigentlich wen manipuliert. Die Psychologin die Schauspielerin oder umgekehrt. Es wird auf jeden Fall nicht ohne Folgen für Sibyl bleiben.
Die Kombination von Regisseurin Justine Triet und ihrem Star Virginie Efira ergibt eine wahrlich sibyllinische Geschichte und einen außerordentlichen Film. „Sibyl" lief im Wettbewerb bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2019 und ist mal einer der richtig guten französischen Filme. Nicht einer der ziemlich schlechten, die man auch versteht, wenn man den Kopf die ganze Zeit im Popcorn-Eimer hat.