Venedig. Mit der sehr freien Goethe-Verfilmung „Faust" von Alexander Sokurow ist der Wettbewerb Venedigs endgültig am Kunst-Pol angekommen - auch ein Kunststück, 22 Filme dramaturgisch derart vom Entertainment zur Hochkultur aufzubauen! Während sich der Lido kongenial von einem leichten Schleier eingehüllt zeigte, sucht Professor Faust in nebulösen Bildern die Seele und findet, begleitet von vielen neuen Nebenfiguren, die Freiheit.
Von Murnau über "Jan Svankmajer's Faust" als Puppenspiel bis Fura del Baus' modernem „Faust 5.0" wurde das Theaterstück immer wieder verfilmt. Der Russe, oder genauer: Petersburger Alexander Sokurow integriert den Klassiker in sein eigenes ästhetisches Universum, macht ihn zum letzten Teil seiner 1999 begonnenen Tetralogie „Moloch Tier Sonne". Auf gut Deutsch gespielt, sucht Faust zwar nach der Seele des Menschen, braucht aber vor allem Geld. Sein Vater, ein Quacksalber, will dem Denker nichts geben, beim Pfandleiher trifft der verarmte Forscher den Teufel. Sehr frei nach Goethe geht es ins Wirtshaus, danach wird Gretchen verführt. Verse gibt es immer nur wenn ein Stückchen Goethe zitiert wird. Dafür einen Haufen zusätzlicher Figuren, unter anderem Hanna Schygulla als Lustweib. Als Wirt tritt Lars Rudolph auf, der vor wenigen Monaten noch ein Konzert in Aachen gab. Sokurows Bilder sind wie oft bei ihm farblich entsättigt und weichgezeichnet. Die künstlich flachen Räume wirken wie über einen verzerrenden Spiegel aufgenommen. Das ist kein neuer Stoff für Literaturkurse, diese Variante wirkt für Fans eines popmodernen „Goethe!" vorgestrig. Altmodisches Kunstkino könnte man schimpfen, aber Kunst in perfekter Form. Und dann gibt es noch das ungewöhnliche Ende, in dem Faust seinen Mephisto namens Maurice Müller in einer Landschaft aus Lava und Geysiren steinigt, um in eisigen Höhen die Luft der Freiheit zu schmecken. Die Seele ist zwar weg, aber: „Natur und Geist, mehr braucht man nicht, um auf freiem Grund ein freies Volk zu erschaffen." Man darf sich Faust als glücklichen Menschen vorstellen!
Wir sind Papst-Verfilmer
Fast an Körperverletzung grenzte „Die Herde des Herrn" von Romuald Karmakar in der Sektion „Orizzonti": Extrem kunstfrei verfolgt der Dokumentarfilmer anlässlich der Wahl von Kardinal Ratzinger zum Papst das rasch aufflammende touristische Treiben in dessen Geburtsort Marktl am Inn und die Pilger auf dem Petersplatz in Rom. Freche Geschäftstüchtigkeit mit Benedikt-Torten und -Tees wird ebenso zur Schau gestellt wie sehr naive Religiosität. Statt Entwicklung gibt es nur mehr vom gleichen ungekonnt wirkenden Rumgefilme. Dass dieses Unding dann noch sechs Jahre bis zur Fertigstellung brauchte, ist unglaublich wie eine Marienerscheinung.
Erfreulich dagegen ein weiterer deutscher Starter, diesmal in der Sektion „Settimana della critica": „Totem", das Spielfilmdebüt von Jessica Krummacher, wurde als Low Budget mit weniger als 30.000 Euro Barmittel in Bochum realisiert. Rätselhaft sind darin Auftauchen und Handeln der jungen Fiona, die als Haushaltshilfe der Familie Bauer alles (mit-) macht. Die nicht richtig funktionierende Familie erhofft sich eine Veränderung, doch die Selbstaufgabe Fionas hat ein anderes Ziel. Ein gelungener Abschlussfilm mit reizvoll verschrobenem Hauskonzert der Psyche, der Hoffnung macht, dass Venedig endlich aufhört, alles von Karmakar zu akzeptieren.