BRD 2011 Regie: Jan Schomburg mit Sandra Hüller, Georg Friedrich, Felix Knopp 90 Min. FSK ab 12
Mitten ins nette Beziehungsleben wirft Martha (Sandra Hüller) den Satz „Sag mir endlich mal die Wahrheit!" Ein nichtsahnendes Spiel, genau wie später im Bett die Variante, es hätte einen anderen Mann gegeben. Tatsächlich sind Martha und Paul seit Jahren zusammen, nun wollen sie gemeinsam nach Marseille, der Mediziner hat dort einen neuen Job. Paul (Felix Knopp) aber will nicht richtig weg. Martha lächelt nur darüber, verpasst ihn aber doch knapp, als er ein paar Tage früher vorfährt. Dann stehen zwei Polizistinnen in der fast leergeräumten Wohnung. Diesmal will Martha nicht wahrhaben, dass er sich auf einem französischen Parkplatz im Auto mit Abgasen umgebracht hat.
Beeindruckend ist die Irrationalität, das Nicht-Verstehen-Können, das Schizophrene von Aussagen wie „Ich erledige die Formalitäten lieber jetzt, weil ich das alles noch nicht verstanden habe." Dann folgt ein erster Gefühlsausbruch beim Auswählen des Sarges, doch die wahre Verwirrung Marthas beginnt erst: Pauls Promotion, die angeblich ein wissenschaftlicher Meilenstein war, erweist sich als Fantasieprodukt. Der Doktorvater kennt niemanden dieses Namens. Paul war seit vier Jahren exmatrikuliert, seine Arbeit komplett abgeschrieben.
Martha versucht, sich in das Leben des Verstorbenen zu versetzen. Ganz konkret in seine Socken. Sie kramt in den schon gepackten Umzugskisten nach Spuren, hört sich ihre eigenen Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter an. Ihre Situation wird immer spannender, immer seltsamer. Denn „Über uns das All", der prominent besetzte Debütfilm von Jan Schomburg, geht nicht in Richtung Entdeckung eines Geheimnis. Das Psychogramm einer ungewöhnlich reagierenden Frau bleibt im Fokus.
Martha sucht an der Uni nach Paul, trifft dort auf einen Geschichts-Dozenten aus Wien. Unvermittelt wird dieser Alexander Runge (Georg Friedrich) zum Ersatz für Paul erwählt - mit bizarren Ergebnissen. Martha macht ein „Vertigo" mit umgedrehten Geschlechtsrollen, legt sich den neuen Mann einfach an die Stelle des Alten. Im Bett und auch sonst. Als der plötzlich die gleichen Dinge sagt und sogar eine „Zusage für Marseille" erhält, ist sie ebenso erstaunt wie das Publikum. Man erinnert sich an Alexanders erste Vorlesung über die „Duplizität" in der Geschichte...
Ein starker Cast scheint die Basis des erstaunlichen Debüts vom Autorenfilmer Jan Schomburg. Sandra Hüller wurde nach „Requiem" in vielen Rollen gefeiert, zuletzt spielte sie in „Brownian Movement" der Niederländerin Nanouk Leopold eine Nymphomanin. Georg Friedrich verkörperte den Famulus Wagner im Venedig-Sieger „Faust" und „Mein liebster Feind" (neben Moritz Bleibtreu). Wie der Brite Mike Leigh probte Schomburg vor dem eigentlichen Dreh intensiv mit den Schauspielern: „Es geht darum, im Vorfeld ein vertrauensvolles und intimes Verhältnis zueinander zu entwickeln, damit man diesen ja oft sehr anstrengenden Weg gemeinsam gehen kann." Dabei darf die gewagte Story nicht übersehen werden. Irritationen gibt es in fast jeder Szene, ganz abgesehen von scheinbar ganz abstrusen Wendungen, von einem Perspektivenwechsel mittendrin. Die große Kunst liegt darin, dass der Film mit diesen mutigen Twists, den doppelsinnigen Dialogen und den immer wieder mal besonderen Bildern die Aufmerksamkeit fesselt und nicht verschreckt.
Jan Schomburg interessierte eine „Faszination für Situationen im Leben, in denen unvermittelt die komplette Vergangenheit sich umdeutet, in denen alles, was man für unumstößlich hielt, zu einer vagen, formlosen Masse wird..."
Eine seltsame Duplizität stellt der Film selbst dar: Es gibt tatsächlich noch einen Regisseur mit Vornamen Jan, der auch aus Aachen stammt und einen Film über einen Arzt gedreht hat, der sich in Marseille umgebracht hat sowie über eine Frau, die entdeckt, dass sie über diesen Mann nichts wusste. Der andere Film heißt jedoch „Auf der Suche" und stammt von Jan Krüger. Dessen Suche findet in Marseille statt und verharrt länger im Vergangenen. Schomburg hingegen verfolgt das Unerwartete.